Zentrale Thesen der paradigmenorientierten Didaktik

1. Die Wissenschaft Psychologie kann grundsätzlich nach zwei Dimensionen strukturiert werden:

 

Dimension 1: Gegenstandsbereiche der Psychologie

 

In dieser traditionellen Perspektive unterscheidet man die Disziplinen der Psychologie nach „Grundlagendisziplinen" und „Anwednungen". Jede dieser Disziplinen ist durch den Bereich psychischer Phänomene definiert, mit dem sie sich wissenschaftlich befaßt, sei es durch Grundlagenforschung oder durch Entwurf wissenschaftliche begründeter Handlungsmodelle:

 

Grundlagendisziplinen:

  • Allgemeine Psychologie (Denken, Lernen, Motivation, Emotion ... )
  • Sozialpsychologie (soziale Kognition, Gruppenphänomene, Kommunikation ... )
  • Entwicklungspsychologie (kognitive, soziale, emotionale Entwicklung ... )
  • Persönlichkeitspsychologie (Persönlichkeitsmodelle, Entstehung der Persönlichkeit, Persönlichkeitsmessung - Diagnostik ... )

 

Angewandte Disziplinen

  • Klinische Psychologie
  • Pädagogische Psychologie
  • Forensische Psychologie
  • Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie
  • Markt- und Werbepsychologie

usw.

 

Dimension 2: Paradigmen der Psychologie

Dies ist die Perspektive der paradigmenorientierten Didaktik der Psychologie. Hier werden die Forschungsprogramme der Psychologie unterschieden bzw. zusammengefaßt nach ihren grundlegenden Modellvorstellungen, nach den typischen wissenschaftlichen Sichtweisen und Methoden. Die zu erforschenden psychologische Phänomene können nämlich in der Psychologie auf fundamental unterschiedliche Weise wahrgenommen werden. Je nach wissenschaftlichem „Apperzeptionsschema" forschen Psychologen mit völlig unterschiedlichen Methoden und konzentrieren sich dabei auf unterschiedliche Aspekte.

 

In der Geschichte der Psychologie haben sich bis zum heutigen Tage fünf verschiedene Paradigmen herausentwickelt, die häufig auch als „Hauptströmungen" oder „Richtungen" bezeichnet werden:

 

Die fünf Paradigmen der Psychologie sind

  • das tiefenpsychologische, psychodynamische Paradigma („Tiefenpsychologie"),
  • das behavioristische Paradigma („Behaviorismus"),
  • das holistische, ganzheitspsychologische Paradigma („Ganzheitspsychologie"),
  • das biologisch-psychologische Paradigma („Psychobiologie"),
  • das kognitionspsychologische Paradigma („Kognitivismus")

 

2. Die paradigmenorientierte Rekonstruktion der Wissenschaft Psychologie eröffnet dem Fachdidaktiker folgende Perspektiven:

 

a) Exemplarische Auswahl von Inhalten

Ein zentrales Problem jeder Fachdidaktik besteht darin, aus dem großen Fundus der Bezugswissenschaft „wichtige" Inhalte auszuwählen und Kriterien für diese Auswahl zu nennen. Dabei soll das „Wesentliche" der Wissenschaft weiter erkennbar bleiben.

Die paradigmenorientierte Rekonstruktion der Psychologie erlaubt es nun, aus dem riesigen Reservoir psychologischer Theorien und Ergebnisse exemplarisch solche zu bestimmen, die für die zentralen psychologischen Forschungsrichtungen und Wahrnehmungsweisen typisch sind. Dadurch wird es möglich, die (paradigmatische) Struktur der Psychologie im begrenzten Unterrichtzusammenhang darzustellen und dabei ihre jeweils wesentlichen Züge erkennbar werden zu lassen.

 

b) Auswahl geeigneter Lehrmethoden

Bei der Auswahl von Lehrmethoden ist stets auf die Charakteristik der zu vermittenden Inhalte Rücksicht zu nehmen. (Z.B. ist es i.A. ungünstig, eine empirische Wissenschaft ausschließlich durch Textinterpretationen vorzustellen.)

Da wissenschaftliche Paradigmen immer auch durch ihre Forschungsmethodik bestimmt sind, kommt diese bei einer paradigmenorientierten Anylyse besonders zum Vorschein und kann exemplarisch im Unterricht umgestzt werden (z.B. durch „typisch kognitivistische" Unterrichtsexperimente oder „typisch ganzheitspsychologische" Unterrichtsdemonstrationen). Die konkrete Arbeit mit repräsentativen paradigmatischen „Musterbeispielen" fördert das konsequente „Hineindenken und -fühlen" in das jeweilige psychologische Paradigma.

 

c) Betonung der wissenschaftstheoretischen und philosophischen Perspektive

Das paradigmenorientierte Vorgehen zeigt,

  • daß bestimmte Forschungsmethoden sich stets nur auf bestimmte Untersuchungsgegenstände beziehen können, und damit automatisch andere ausblenden,
  • daß dies auf dem Hintergrund eines ganz bestimmten philosophischen Menschenbildes geschieht, was in den Anwendungszusammenhängen (der Angewandten Psychologie) völlig unterschiedliche Verfahren insbesondere aber völlig verschiedene Zielsetzungen nach sich zieht.

Insgesamt konzentriert die paradigmenorientierte Didaktik die Aufmerksamkeit von Lehrern und Schülern auf die wesentlichen wissenschaftstheoretischen und allgemeinphilosophischen Hintergrundannahmen der psychologischen Forschungsansätze.

 

d) Betonung der historischen und gesellschaftlichen Perspektive der Wissenschaft

Die historische Entwicklung einer jeden Wissenschaft ist geprägt von mindestens zwei Komponeneten:

  • den gesellschaftlichen Umgebungsbedingungen und
  • der innerwissenschaftlichen Dynamik, nämlich den Auseinandersetzungen und Kämpfen zwischen den verschiedenen Forschergruppen.

(Die Heftigkeit dieser Auseinandersetzungen zeigt sich noch heute an den Polemiken verschiedener psychologischer Richtungen, wenn die einen die anderen als „unwissenschaftlich" bezeichnen, und dafür von diesen vorgeworfen bekommen, sich mit ziemlich „irrelevanten" Problemen zu befassen; wenn sie sich denn überhaupt noch gegenseitig zuhören!)

 

Eine paradigmenorientierte Rekonstruktion der Psychologie zeigt (zwangsläufig) sowohl die historische Kontinuität jeder paradigmatischen Grundrichtung auf als auch die in paradigmatischen Auseinandersezungen herausgebildeten Unterschiede. Warum ein Paradigma sich ausgerechnet in einer bestimmten historischen und gesellschaftlichen Situation entwickelt hat, ist ebenfalls Gegenstand der Paradigmenanalyse.

 

3. Oberste Ziele des Psychologieunterrichts

Mit Hilfe der paradigmenorientierten Didaktik können (mit Hoffnung auf Erfolg) die folgenden allgemeinen fundmentalen „Funktionsziele" angestrebt werden:

 

Die Schüler lernen, daß es unterschiedliche, gleichberechtigte Sichtweisen vom Menschen gibt. Jede davon kann ihren Anspuch auf Wissenschaftlichkeit zu Recht vertreten, da jede dafür andere, rationale Kriterien angeben kann. Das Pochen auf eine Sichtweise resultiert aus der (zwangsläufigen) Verengung der wissenschaftlichen Perspektive bei gleichzeitig (unreflektiertem) Absolutsetzen dieser Perspektive.

Der Wahl einer „plausiblen" persönlichen und wissenschaftlichen Sichtweise gehen eine Reihe unterschiedlicher Wertentscheidungen voraus, die oft „unhinterfragt", also nicht bewußt sind. Diese Wertentscheidungen sind bedingt durch die persönliche Lerngeschichte, aber auch durch gesellschaftliche und historische Einflüsse. Sie sind stets mit hoher emotionaler Wertigkeit versehen.

 

Psychisches Geschehen ist in wissenschaftlichen Modellen systematisierbar (erforschbar, beschreibbar und erklärbar). Allen wissenschaftlichen Modellen (auch der Psychologie) ist eigen, daß sie rational („an der Realität") geprüft werden können, allerdings in unterschiedlicher Strenge.

 

Durch Hineindenken und -fühlen in unterschiedliche psychologische Paradigmen können Schüler erleben, wie „plausibel", „vernünftig", „moralisch wertvoll" usw. ein Modell (Paradigma) sein kann, und dennoch ist es mit anderen völlig unvereinbar, die ihrerseits genauso „plausibel", „vernünftig", „moralisch wertvoll" usw. sind.

 

Schüler üben sich so in Pluralitätskompetenz, der Fähigkeit nämlich, andere Sicht- und Erlebensweisen nicht nur zu „tollerieren" sondern „von innen heraus" nachzuempfinden.