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Die paradigmatische Wahrnehmung psychologischer Phänomene im Alltag

1. Fünf verschiedene Erklärungs- und Interpretationsmuster für den Fall „Schüler A"

 

Der Fall des Schülers A

Der Lehrer, der die Klasse 8 neu übernommen hat, hält dort die erste Unterrichtsstunde. Der Schüler A starrt gedankenverloren auf das Heft des Nachbarn. Der Lehrer wurde bereits von einem Kollegen auf das problematische Verhalten des Schülers A und dessen schwierige häusliche Bedingungen hingewiesen: Die Eltern hatten nie viel Zeit für A und leben nun in Scheidung. Er ermahnt den Schüler freundlich aufzupassen, aber dieser antwortet sehr unwirsch: „Ja, is' schon gut, Mann!" Einige Schüler kichern und sehen den Lehrer erwartungsvoll an. Dieser ärgert sich über A, sagt aber nichts. Etwas später, als A seinem Nachbarn etwas ins Heft kritzelt, sagt der Lehrer energisch: „Laß das! Du solltest wirklich aufpassen!" Schüler A schneidet daraufhin seinem grinsenden Nachbarn eine Grimasse und sagt zu diesem: „Haste gehört, Du Eiermann?". Die Klasse lacht. Der Lehrer fährt A an: „Soll ich Dich tatsächlich gleich in der ersten Stunde ins Klassenbuch eintragen?" Darauf reißt A seinem Nachbarn ein Blatt aus dem Heft, knüllt es zusammen und bewirft damit eine andere Schülerin.

Versuchen Sie, eine (oder auch mehrere) mögliche Erklärungen für das obige Problem zu finden.

 

2. Schülerantworten zum Beispiel des Schülers A: „Anfänger" und „Fortgeschrittene"

 

2.1 „Anfänger"

1. Schülerin (16 Jahre), Einführungsphase, erste Stunde des Psychologieunterrichts:

„Ich denke, es gibt viele Möglichkeiten, diese Situation zu interpretieren. Die erste wäre meiner Ansicht nach das zerstörte Verhältnis zwischen A und seinem Zuhause. Das Verhalten A's wird durch die mangelnde Erziehung nicht genug geprägt. Die Erziehung, besonders die Freiräume, die durch die angespannte Situation der Eltern entstehen, sind aber meiner Ansicht nach die wichtigsten Gründe für das Verhalten von A. A hat dadurch die Möglichkeit, unter anderen Jugendlichen Sachen zu lernen, von denen die Eltern nichts erfahren und somit ihm auch nicht helfen können.

 

Die zweite Möglichkeit ist, daß A in der Schule seine Wut ausläßt, die sich zuhause durch das Verhältnis der Eltern ergibt. Vielleicht ist die Schule der einzige Ort, wo er seine Verzweiflung loswerden kann."

 

2. Schüler (16 Jahre), Einführungsphase, erste Stunde des Psychologieunterrichts:

„Die Konfliktsituation kommt dadurch zustande, daß der Schüler sich negativ gegenüber dem Lehrer verhält, er provoziert. Auf die Ermahnungen des Lehrers reagiert der Schüler mit frechen Antworten oder Reaktionen, die er an seinen Mitschülern ausläßt. Der Schüler A fühlt sich durch den Lehrer angegriffen. Er läßt seine Aggressionen an seinen Mitschülern aus, weil sich schon genug Aggressionen angestaut haben, in der Schule und zu Hause. Allgemein läßt sich die Reaktion dadurch erklären, daß sich der Schüler von jedem angegriffen fühlt, denn er meint, daß sich keiner um ihn kümmert und daraus schließt er, daß ihn keiner mag.

 

2.2 „Fortgeschrittene"

3. Schülerin (19 Jahre), nach 3 Jahren Psychologieunterricht, in der letzten Unterrichtsstunde vor dem Abitur:

 

„Bei dem vorliegenden Fallbeispiel (auch bei anderen) kann man nur dann etwas über die möglichen Ursachen sagen, wenn man sich für ein Paradigma entschieden hat. Aus Systemtheoretischer Sicht handelt es sich um einen Aufschaukelungsprozeß, oder um das Ergebnis einer „self-fulfilling-prophecy" (Hinweis des Kollegen)

 

Wenn man das Fallbeispiel psychoanalytisch betrachtet, so ist das Verhalten des Schülers Ergebnis seiner frühen Kindheit (Eltern nie Zeit), oder das Verhalten des Lehrers ist darauf zurückzuführen, daß er, aufgrund seiner analen Fixierung, am Schüler A seine Machtbedürfnisse auslebt.

 

Ganz anders sieht es für die Ursachen aus, wenn man den Fall aus behavioristischer Sicht betrachtet, dann nämlich ist die Reaktion des wütenden Lehrers z.B. für Schüler A eine Zuwendung und damit eine Verstärkung seines destruktiven Verhaltens.

Genau läßt sich jedoch nicht festlegen: 'Das ist die Ursache !' „

 

4. Schülerin (19 Jahre), nach 3 Jahren Psychologieunterricht, in der letzten Unterrichtsstunde vor dem Abitur:

Mit Hilfe der verschiedenen Paradigmen der Psychologie kann man mehrere unterschiedliche Ursachen für das vorliegende Problem aufzeigen:

 

Aus ganzheitspsychologischer Sicht handelt es sich hierbei um einen Aufschaukelungsprozeß mit positiver Rückkopplung. Der Schüler A sieht den Lehrer als Verursacher seines destruktiven Verhaltens an, und der Lehrer reagiert aus seiner Sicht nur auf das Verhalten des Jungen. Je mehr der Lehrer den Schüler ermahnt und ihm Strafe androht, desto mehr destruktives Verhalten zeigt der Schüler A.

 

Außerdem würde das Handeln des Lehrers als self-fulfilling-prophecy angesehen werden, die das Lehrerkollegium verursacht hat, indem es den Lehrer vor dem Schüler A gewarnt hat, ohne daß dieser ihn vorher kannte. (...)

 

Psychoanalytiker sehen die Ursache jeglichen Verhaltens in der frühen Kindheit von den betreffenden Personen, genauer gesagt in Fixierungen an eine Phase der psychosexuellen Entwicklung. Sowohl der Lehrer als auch der Schüler scheinen an die anale Phase fixiert zu sein, in der ein Kind lernt, sich durchzusetzen und Macht auszuüben. Wahrscheinlich fand ein Konflikt in der analen Phase statt, was einen analen Zwangscharakter in der späteren Entwicklung zur Folge hatte.

 

2.3 Interpretation

Der Vergleich der Schülerantworten vor und nach dreijährigem Psychologieunterricht zeigt folgende Unterschiede:

1. „Anfänger" interpretieren den Fall einseitig und parteiisch („mangelnde Erziehung", „freche Antworten"); d.h. sie identifizieren sehr schnell einen „Schuldigen" und fokussieren ihre Aufmerksamkeit, und mit ihr alle Erklärungsversuche auf diese Seite (in der Regel auf den Schüler A bzw. seine Eltern). Fast nie ist nach einer solchen Festlegung noch ein „Perspektivwechsel" möglich.

Auch psychologische „Laien" verwenden paradigmatische Sichtweisen der Psychologie, ohne diese explizit zu kennen, z.B.:

  • A läßt seine angestaute Aggression/Verzweiflung „heraus" (tiefenpsychologisch)
  • A „meint, daß sich niemand um ihn kümmert, und schließt daraus ... (kognitivistisch).

Allerdings können sie innerhalb eines Satzes von einer Perspektive in die andere wechseln.

 

2. „Fortgeschrittene" geben zu erkennen, daß sie sich vor jeder Interpretation für eines der Wahrnehmungsmuster „entscheiden" (müssen). Sie erklären den Fall mit verschiedenen Paradigmen der Psychologie und orientieren sich dabei an der gelernten Terminologie. Sie verwenden die Paradigmen zwar mit unterschiedlichen Vorlieben, erzeugen dabei aber immer einen Perspektivwechsel: mal steht der Lehrer im Zentrum der Erklärung, mal der Schüler, mal alle zusammen. Fortgeschrittene Schüler bleiben bei einem Erklärungsprinzip und führen es zu Ende.

Die Grundforderung an den Psychologieunterricht, zum Perspektivwechsel zu befähigen, hat hier zwei Bedeutungen erhalten:

  • Perspektivwechsel in der Alltagswahrnehmung psychischer Phänomene: die Fähigkeit, eine soziale Situation auch von verschiedenen Standpunkten aus zu sehen,
  • und Wechsel der grundlegenden wissenschaftlichen Sichtweise und des Menschenbildes.

 

3. Psychologische Paradigmen und die Alltagsrelevanz des Unterrichts

Jede der Hauptströmungen beinhaltet, wie oben gezeigt, eine andere fundamentale Form der Wahrnehmung psychischer Prozesse. Diese „Wahrnehmungsschemata" sind aber auch geeignet, Alltagsphänomene zu analysieren und dort Zusammenhänge zu erkennen (vgl. das Beispiel des Schülers A). Schülerinnen und Schüler, die gewohnt sind, in diesen unterschiedlichen Weisen zu sehen, können auch leichter theoretisches psychologisches Wissen auf konkrete Alltagssituationen übertragen. Theoriewissen bleibt nicht fremd, sondern es trägt bei zur Bewältigung von Alltagsproblemen. Hieraus ergeben sich:

 

4 Hauptthesen zur Alltagsrelevanz des Paradigmen-orientierten Psychologieunterrichts

1. Psychologische Paradigmen sind grundlegende Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster für psychische Phänomene auch in Alltagssituationen.

2. Alle psychologischen Alltagserklärungen („naive Theorien") sind in ihren Grundformen aus Elementen zusammengesetzt, die in den fünf wissenschaftlichen Paradigmen der Psychologie wiederzufinden sind. Die wissenschaftlichen Paradigmen der Psychologie bilden damit die fünf Grunddimensionen aller rationalen psychologischen Erklärungen unserer Kultur.

3. Unterschiedliche paradigmatische Sicht- und Erklärungsweisen führen auch im Alltag zu unterschiedlichen Handlungskonsequenzen.

4. Das Einüben und Bewußtmachen paradigmatischer Interpretationsmuster im Psychologieunterricht erleichtert in problematischen Alltagssituationen das Auffinden geeigneter wissenschaftlicher Theorien sowie deren Anwendung zur Problemlösung.

5. Die Fähigkeit zum Wechsel des paradigmatischen Erklärungsmusters eröffnet in problematischen Situationen Handlungsalternativen.

 

5. Weitere Thesen zur Bedeutung der Paradigmen-orientierten Didaktik des Psychologieunterrichts

(1) Systematischer Überblick über das Gesamtsystem der Psychologie

Wenige grundlegende Erklärungsprinzipien reichen aus, um eine unüberschaubare Zahl wissenschaftlicher Ergebnisse zu systematisieren. Dadurch gewinnen Schülerinnen und Schüler leichter einen Überblick über das Wissenschaftssystem der Psychologie und sind außerdem in der Lage, auch später noch hinzukommendes psychologisches Wissen einzuordnen.

 

(2) Didaktische Reduktion und Auswahl von Exemplaria

Die Lehrenden erhalten einen strukturierenden Rahmen für ihre Unterrichtsplanung. Dieser erleichtert die exemplarische Auswahl konkreter Beispiele aus einer Überfülle wissenschaftlicher Ergebnisse. Hier lautet das Auswahlkriterium: welches konkrete wissenschaftliche Experiment oder welches Fallbeispiel repräsentiert am ehesten die typische Sichtweise und Methodik der jeweiligen Hauptströmung?

 

(3) Wissenschafts- und methodenkritische Perspektive

Das kontrastierende Herausarbeiten komplementärer psychologischer Ansätze ermöglicht deren wertende Einordnung aus einer übergeordneten Perspektive. Die Schülerinnen und Schüler kommen so in die Lage, die verschiedenen wissenschaftlichen Annäherungsweisen kritisch zu hinterfragen und die dahinter stehenden Menschenbilder zu vergleichen.

Die pointierte Differenzierung nach grundlegenden wissenschaftlichen Auffassungen ermöglicht eine kritische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft.

 

(4) Gesellschaftliche Bedingtheit von Wissenschaft

Die fünf Hauptströmungen entstammen unterschiedlichen gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Durch ihre Analyse lassen sich die Einflüsse gesellschaftlicher Prozesse auf die Wissenschaften besonders gut erklären.

 

(5) Systematisierende Einordnung praktischen psychologischen Handlungswissens

Mit den fünf Hauptströmungen kann dasselbe Strukturierungsprinzip, das zur Einordnung allgemeiner psychologischer Theorien dient, auch zur Systematisierung psychologischer Handlungsmodelle für die Praxis eingesetzt werden. Auch in den Anwendungsdisziplinen der Psychologie herrschen diese Sichtweisen, und in jeder praktischen psychologischen Maßnahme ist die Herkunftsperspektive erkennbar. Das Strukturierungsprinzip der fünf Hauptströmungen erleichtert damit den Schülerinnen und Schülern auch die Systematisierung der immensen Zahl unterschiedlicher psychologischer Techniken.