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1. Methodischer Schwerpunkt Nr. 1: Unmittelbares Erleben und Didaktische Erlebnisepisoden

Ausgangssituation für die selbstorganisierte Entstehung "situierter Kognitionen" sind komplexe, authentische Problemsituationen (vgl. Mandl u.a., 1994). Um diese im Unterricht zu erzeugen, sind zunächst psychische Phänomene in den Unterricht "einzubringen" und sodann zu problematisieren.

1.1 Die Repräsentation psychischer Phänomene und Prozesse im Unterricht

Als besonderes didaktisches Problem jedes Unterrichts erweist sich immer die Aufgabe, den Gegenstand des Unterrichts in die Unterrichtssituation einzubringen und dort darzustellen. Eine große Zahl methodischer Techniken wird traditionell dazu im Psychologieunterricht verwendet, z.B.:

  • wissenschaftliche Berichte,
  • Fallbeschreibungen,
  • Filme,
  • Erlebnisberichte,
  • Experimente, die entweder in Texten beschrieben sind oder als Unterrichtsexperimente vor Ort durchgeführt werden.

 

Diese Verfahren sind aber alle mit spezifischen Schwierigkeiten behaftet: die meisten bedienen sich nämlich eines Mediums, um Realitätsausschnitte darzustellen. Im Text kann ein psychisches Phänomen beschrieben werden, und zwar in mehr oder weniger abstrakter Weise; Fallbeispiele beschreiben ebenfalls Realität, allerdings immer aus der Perspektive eines Verfassers, ebenso wie Filme, dokumentarisch oder in Spielhandlungen, psychische Realitäten abbilden, die zwangsläufig nur selektiv erfaßt sein können. Und selbst Unterrichtsexperimente repräsentieren psychische Phänomene in stark selektierter und abstrahierter Form.

 

Damit ergeben sich zwei grundsätzliche Probleme: Einerseits ist immer nur ein Modell der Realität im Unterricht präsent, was zur Folge hat, daß häufig erhebliche Abstriche an die Repräsentativität zu machen sind. Bestimmte Aspekte des Originals sind verlorengegangen. Andererseits verliert das Phänomen, je nach Medium, manchmal erheblich an sinnlicher Unmittelbarkeit, insbesondere, wenn es auch noch in sprachlicher Form vermittelt wird. Je mehr aber seine Aspekte nur (meist sprachlich oder bildlich) symbolisiert werden, umso mehr geht an Authentizität verloren.

 

Insgesamt investiert der Autor eines jeden Modells also, ohne daß er sich dessen bewußt sein muß, seine persönlichen Hintergrundüberzeugungen in die Auswahl und Darstellung der "relevanten Aspekte" des Modells. Der Schüler erhält damit nicht nur eine sinnlich reduzierte, sondern auch noch von den Anschauungen des Autors geprägte "Realität".

 

Der Psychologieunterricht kann aber, im Unterschied zu den meisten anderen Fächern, eine Besonderheit nutzen, die diesen nicht eigen ist: Sein Gegenstand ist immer dort präsent, wo Menschen zusammen sind. Die überwiegende Zahl der interessierenden Phänomene des "Erlebens und Verhaltens" des Menschen, sowohl individuelle als auch solche des sozialen Kontextes, finden im Unterricht selber statt oder können dort induziert werden: Sich selber hat jeder Schüler immer "dabei". Jeder Lernende kann selber das Original nicht nur betrachten, er kann das Original selber sein!

 

Die Möglichkeit der unmittelbaren, völlig unvermittelten Erfahrung "von innen her" verweist auf einen Begriff, der als wissenschaftlicher Gegenstand in der modernen Psychologie unüblich geworden ist: das Erleben.

1.2 Exkurs: Unmittelbares Erleben

In der Tradition von der geisteswissenschaftlichen Psychologie Diltheys (1956) oder Klages (1948) bis hin zur Gestalt-/Ganzheitspsychologie der Leipziger Schule (vgl. z.B. Krueger, 1926; Sander, 1926) sind dem Erlebensbegriff folgende Eigenschaften zugeordnet worden:

 

1. Unmittelbarkeit

Erleben ist gekennzeichnet durch Unmittelbarkeit. Es kommt somit ohne Medium aus und ist unabhängig von Reflexion. Sprachliche oder bildliche Symbole können auf Erlebnisse verweisen, können auch solche auslösen (die dann wiederum neu in den Blick zu nehmen wären), sie sind jedoch niemals selber Erlebnisse. Erlebnisse sind eigentlich Lebensvorgänge. Deshalb ist Erleben das Instrument des Verstehens psychischer Vorgänge, während die Reflexionen durch Erzeugen kognitiver Verbindungen (nur) Erklärungen ermöglicht.

 

2. Spontaneität

Erleben ist spontan. Es steht im Gegensatz zum bewußt Durchdachten, und es steht im Gegensatz zu äußerer oder innerer Steuerung, da jeder Steuerungs- und Reflexionsprozeß schon auf einer anderen Ebene verlaufen muß und das Erleben selber zum Objekt hat. Erleben ist der ursprünglich spontane, authentische Prozeß, während Steuerung und Reflexion Metaprozesse sind, die sich höchstens auf Erlebtes beziehen können.

 

3. Ganzheit

Erleben ist immer aufzufassen als Erlebnisganzheit: Eine Zergliederung in kognitive oder emotionale Komponenten zerstört seine eigentliche Substanz. Erlebte Ganzheit umfaßt immer Sinnliches verschiedener Modalitäten und Unsinnliches. Erleben hat stets Gestaltqualitäten.

 

4. Genetischer Prozeß

Differenzierte empirische Betrachtungen zeigen (z.B. bei Sander, 1926), daß ein Erlebnis nicht ein diffuser einmaliger Zustand ist, sondern daß Erleben als genetischer Prozeß aufgefaßt werden muß: Aus anfänglichen Elementar- und Vorgestalterlebnissen erwachsen in einem unwillkürlichen Differenzierungsprozeß immer stärker gestaltete Ganzheiten. Erst am Ende dieses Prozesses steht eine stabile Gestaltwahrnehmung. Dabei wird die Differenzierungsrichtung der Glieder von den übergeordneten Ganzheiten dominiert.

1.3 Unmittelbares Erleben im Psychologieunterricht

Auch der traditionelle Psychologieunterricht verwendet schon eine Reihe von Verfahren, in denen psychische Phänomene unmittelbar, also ohne vermittelnde Medien, erlebbar sind, z.B.:

 

  • Unterrichtsexperimente: Schüler können in (didaktisch reduzierten) Unterrichtsexperimenten selber Versuchspersonen sein, z.B. als Teilnehmer am Experiment von Bruner & Postmann (vgl. das unten vorgestellte Einführungsexperiment, S. 44). Sie erleben dort, wie es ist, wenn "Tabuwörter" später (bei "Abwehrern") oder früher (bei "Sensibilisierern") bewußt wahrgenommen werden, und was in der "Grauzone" kurz vor der bewußten Wahrnehmung geschieht (Manche kommen dort zu Hypothesen, die schon inhaltlich auf das wahrzunehmende Wort hinweisen, diesem aber äußerlich, in der Wortgestalt noch recht unähnlich sind.)
  • Introspektive Beispiele: Sie erleben an sich das Phänomen, daß Ihnen ein Name oder Begriff nicht einfällt, obwohl sie wissen, daß sie ihn "wissen". Oder sie erleben die nicht bewußte Steuerung von Verhalten, wenn sie sich ihres eigenen "Territorialverhaltens" an ihrem Arbeitsplatz gewahr werden.
  • Kognitive Strukturierung und Steuerung: Sie erleben die Strukturierungsprozesse der Wahrnehmung an den typischen Beispielen der Wahrnehmungpsychologie, oder sie erleben ihr eigenes "zielkorrigiertes Handeln" beim Ergreifen eines Gegenstandes.

 

Solche unmittelbaren Erlebnisse sind aber im Unterricht auch kontrolliert inszenierbar. Unterrichtsdemonstrationen, die dies zum Ziel haben, werden Didaktische Erlebnisepisoden genannt.

1.4 Didaktische Erlebnisepisoden

In welcher Weise unmittelbares Erleben im Unterricht gezielt induziert und fruchtbar gemacht werden kann, soll nun am Beispiel einer konkreten Unterrichtsdemonstration erläutert werden.

 

Die Erlebnisepisode "Spinnenangst"

 

(1) Das Erleben

 

Demonstration "Spinnenangst"

Die Schüler(innen) werden gebeten, sich ruhig hinzusetzen und sich intensiv das vorzustellen, was nun langsam und eindringlich beschrieben wird:

"Stellen Sie sich vor, unter Ihrem Tisch, vor Ihrem Fuß sitzt eine dicke schwarze Spinne ...

(abwarten, bist wieder Ruhe eingekehrt ist!)

Sie beginnt sich zu bewegen ...

und nähert sich langsam dem Schuh ...

nun krabbelt sie auf den Schuh und gleich von außen aufs Hosenbein ...

Sie klettert immer weiter nach oben ... jetzt hat sie schon den Pullover erreicht ...

und sie klettert immer höher ... nun spüren Sie sie zum ersten Mal am Hals kribbeln ...

Sie klettert weiter über das Kinn ...

und nun sollten Sie besser den Mund schließen!"

Wenn sich der Tumult gelegt hat, dürfen diejenigen Schüler, die von alledem unberührt geblieben sind, weil sie keine Spinnenangst haben (oder dies vorgeben), ihren "Mut" beweisen und die "dicke schwarze Spinne" mit der flachen Hand zerquetschen!

 

(2) Nachgespräch, Festhalten der Eindrücke und unbeeinflußte Deutungen

 

Am Ende der Erlebnisepisode kommen häufig Spontanäußerungen folgenden Inhalts vor:

Sch 1: "Das war ja total ekelhaft!"

Sch 2: "Es war so furchtbar, ich hatte richtige Schweißausbrüche."

Sch 3: "Ich wollte am liebsten weglaufen und habe auch zwischendurch nicht mehr mitgemacht."

Sch 4: "Gut daß keine richtige Spinne da war, ich glaube, ich wäre gestorben."

Sch 5: "Die Spinnen tun einem doch gar nichts. Ich möchte mal wissen, woher das kommt, daß man soviel Angst hat!"

Sch 6: "Meine Mutter schreit auch schon, wenn sie nur das Wort ´Spinne´ hört"

Sch 7: "Ich glaub, das ist angeboren!"

Sch 8: "Ich kann die ganze Aufregung nicht verstehen. Wer hat schon Angst vor harmlosen Spinnen?"

(Die hier wiedergegebenen Äußerungen stammen von Schülern aus einem Einführungskurs, die mit wissenschaftlich-psychologischen Theorien bisher nicht vertraut sind.)

 

(3) Die Kriterien des Unmittelbaren Erlebens

 

Die Schüleräußerungen zeigen deutlich, daß der in dieser Demonstration ablaufende Vorgang alle Kriterien des Erlebens erfüllt:

 

  1. Er ist unmittelbar, also "unvermittelt". Die durch Vorstellungen induzierten Ängste werden authentisch erlebt, ihre Beschreibung und Analyse erfolgt erst im Anschluß an das Erlebnis.
  2. Sie entstehen spontan. Die Anweisungen des Lehrers richten sich nur auf die äußeren Bedingungen ihres Zustandekommens, von den Ergebnissen des Vorgangs wird nichts vorweggenommen. Jeder Lernende ist in seinem Erlebnis frei.
  3. Das Gesamterleben ist ganzheitlich und entwickelt sich in einem genetischen Prozeß: Die Erfahrung von Spinnenangst ist zunächst diffus und wird unstrukturiert als "ekelhaft" erlebt. Dann erst differenziert sich dieser Vorgang in einzelne Elemente: Man empfindet "Ekel" und hat "Schweißausbrüche" (physiologische Komponente), erinnert sich an frühere Situationen oder "weiß", daß "Spinnen harmlos sind" (kognitive Komponente) und möchte am liebsten "weglaufen" (Handlungskomponente).

 

(4) Verschiedene Möglichkeiten des Unterrichtsaufbaus

 

Diese Erlebnisepisode kann nun "Initialzündung" werden zum Einstieg in verschiedene emotionspsychologische Ansätze, und der jeweilige der Anfangspunkt läßt sich aus den spontanen Schüleräußerungen gewinnen:

 

  1. Die psychobiologische Deutung: Tierphobien, ausgelöst durch "angeborene Mechanismen", als biologisches, evolutionäres "Erbe" mit adaptiver Funktion; physiologische Grundlagen der Angstreaktion.
  2. Die behavioristische Deutung: Spinnenphobie als konditionierte Reaktion, gelernt in sozialen Situationen; als Auslöser kommen neben dem eigentlichen Reiz "Spinne" auch Vorstellungen in Frage.
  3. Die kognitivistische Deutung: Neben der allgemein anerkannten Überzeugung "Spinnen sind (in Europa) harmlos" müssen "irrationale Überzeugungen" vorhanden sein, die die Angst erzeugen (z.B. "Spinnen übertragen Krankheiten").
  4. Die tiefenpsychologische Deutung: "Spinne" muß als Symbol angesehen werden, das verdrängte, (früh-)kindliche Ängste aktiviert. (z.B.: die Assoziationskette "Spinne - Spinnennetz - gefangen sein - gefressen werden" könnte unbewußt an die ödipale Situation in der Familie erinnern, wo auch eine Lebens-Bedrohung aus dem engsten Familienkreis unbewußt phantasiert wurde.)

 

(5) Paradigmenorientierte Funktionen

 

1. Einführungsepisode

 

Diese vier Beispiele zeigen, daß die Erlebnisepisode "Spinnenangst" als Einführungsepisode für zumindest drei verschiedene Paradigmen geeignet ist. Während die tiefenpsychologische Deutung sicher erheblichen Vorwissens bedarf, sind die drei anderen Deutungen in den zitierten Schüleräußerungen schon implizit vorhanden, so daß sie relativ leicht zum Ausgangspunkt des jeweiligen Sprachspiels des psychobiologischen, des behavioristischen oder des kognitivistischen Paradigmas gemacht werden können.

 

2. Vergleich verschiedener Paradigmen

 

Bei dieser Erlebnisepisode ist die Möglichkeit der Deutung aus der Perspektive verschiedener Paradigmen für die Paradigmenorientierten Didaktik von besonderem Wert:

 

Wird die Erlebnisepisode "Spinnenangst" eingesetzt, nachdem die verschiedenen grundlegenden Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster erarbeitet wurden, so lassen diese sich einerseits wiederholend, übend oder vertiefend anwenden, vor allem aber können sie auf einer übergeordneten Ebene verglichen werden.

 

Drei Vergleichsmomente versprechen für das Gesamtkonzept der Paradigmenorientierten Didaktik besonders fruchtbar zu sein, und sie sollen hier in problemorientierten Leitfragen formuliert werden:

 

Leitfrage 1: Welche psychischen Phänomene werden jeweils betrachtet, um das Entstehen der Angst zu erklären? Wie werden die Zusammenhänge gesehen? (Frage nach den Basiselementen der Paradigmen)

 

Leitfrage 2: Welche psychischen Phänomene werden vom jeweiligen Paradigma nicht erfaßt? (Frage nach den "blinden Flecken" der Paradigmen)

 

Leitfrage 3: Was müßte jeweils getan werden, um die Angst abzubauen? (Frage nach den pragmatischen Konsequenzen der paradigmatischen Wahrnehmungs- und Erklärungsschemata)

 

Ein solcher Paradigmenvergleich beruht dann nicht allein auf theoretischen Erörterungen, sondern auch er ist verankert in authentischen Erlebnissen. Schüler erleben, auf welche Aspekte der eigenen erlebten Wirklichkeit sich die verschiedenen Interpretationen beziehen: was es bedeutet, daß die Angst hier, kognitivistisch interpretiert, aus "irrationalen Ideen" entsteht (vgl. Ellis, 1977), und welches die eigenen "irrationalen Ideen" sein könnten; und sie erfahren, was "an Ihnen selber" in behavioristischer Manier als Angst-Reaktion interpretiert wird, die es (durch "Gewöhnung") zu löschen gilt. Sie erleben also die Unterschiede zwischen verschiedenen paradigmatischen Sichtweisen, indem sie lernen, die Aufmerksamkeit auf eigene innere oder äußere Prozesse zu lenken, und sie erleben die "blinden Flecke" eines Paradigmas, indem sie diese Aufmerksamkeit von bestimmten Phänomenen abwenden.

 

3. Reflexion der eigenen alltagspsychologischen Wahrnehmungs- und Erklärungsschemata

 

Die oben wiedergegebenen Äußerungen der Schüler zeigen, daß sie in ihrer ersten spontanen Deutung für diesen Kontext offensichtlich ganz bestimmte Wahrnehmungs- und Erklärungsschemata bevorzugen. Manche heben sofort ab auf die irrationalen Aspekte der Spinnenangst ("Die Spinnen tun einem doch gar nichts ..."), andere deuten an, daß sie ganz gewisse Hypothesen über das Erlernen der Spinnenangst besitzen ("Meine Mutter schreit auch schon ...") und wieder andere sind "sicher" in ihrer biologischen Deutung ("... das ist angeboren!).

 

Sind die Spontandeutungen der Schüler fixiert (z.B. könnte man im Anschluß an die Erlebnisepisode darum bitten, daß "jeder für sich" Erklärungen notiert) so lassen sich diese mit den jeweiligen wissenschaftlichen paradigmatischen Apperzeptionsschemata vergleichen. Die Schüler könnten untersuchen, ob die von Ihnen hier bevorzugte(n) Interpretation(en) in anderen Alltagszusammenhängen ebenfalls vorgezogen werden (z.B. für "Prüfungsangst", für "Aggressivität", für "Schüchternheit" ...)

1.5 Argumente für die Lernwirksamkeit Didaktischer Erlebnisepisoden

Daß Didaktische Erlebnisepisoden in besonderer Weise zum Aufbau "fluiden Wissens" beitragen können, läßt sich thesenartig wie folgt begründen:

 

1. Lerntheoretische Argumente:

Didaktische Erlebnisepisoden fördern das Erlernen und den Transfer psychologischer Grundbegriffe, denn

  • Begriffe "müssen auf aktuelle Reizsituationen rückführbar sein. Diese liefern Ihnen ihre 'operationale' Bedeutung, die auf keine andere Weise zu gewinnen ist" (Gagné, 1973; S. 143).
  • Die Vielfalt der Reizsituationen und die Unterschiedlichkeit der Kontexte erhöht die Generalisierbarkeit des Wissens. (Gagné, 1973; mandl u.a., 1994)

 

2. Denktheoretische Argumente:

  • Didaktische Erlebnisepisoden stellen psychische Phänomene in ihren ursprünglichen komplexen Kontext: Sie ermöglichen damit den selbständigen Erwerb und die Entwicklung von Superzeichen und Strukturwissen. (vgl. Dörner, 1989; S. 62f)
  • Wissen kann als "theoretisches" Wissen vorhanden sein, ohne daß derjenige, der über das Wissen verfügt, in der Lage ist, es anzuwenden ("Eunuchenwissen"). Dies ist zu beseitigen durch die Reflexion unmittelbarer Erfahrungen. (a.a.O.; S. 305f)

 

3. Motivationspsychologische Argumente (Bruner 1973, Berlyne 1974):

Didaktische Erlebnisepisoden ermöglichen "entdeckendes Lernen":

  • Sie können psychische Phänomene so darbieten, daß Konflikte z.B. mit den eigenen "naiven Theorien" auftreten, was zu intrinsisch motiviertem Neugierverhalten führt.
  • Dieses mündet in die Tendenz zur selbständigen Problemlösung: in entdeckendes Lernen.

(Hierzu mehr im nachfolgenden "Methodischen Schwerpunkt Nr. 2")

 

4. Wissenschaftstheoretische Argumente:

  • Didaktische Erlebnisepisoden enthalten vor jeder sprachlichen Erfassung zunächst die "Originalphänomene" ohne theoriegetränkte, methodologische Selektion. Erst auf der Ebene der sprachlich vermittelten Analyse gehen wissenschaftliche oder alltagswissenschaftliche Vorannahmen ein. Dadurch können Phänomene aus unterschiedlicher paradigmatischer Perspektive betrachtet werden. Die selektive Wirkung des Paradigmas wird anschaulich.
  • Didaktische Erlebnisepisoden eröffnen die Möglichkeit, vor jedem experimentellen Design, (das immer schon paradigmatische Vorannahmen investiert) wissenschaftliches Vorgehen zur Beschreibung und Erklärung der erlebten Phänomene selbst zu planen und zu analysieren.

 

1.6 Zusammenfassung und Ausblick: Sieben Thesen über Didaktische Erlebnisepisoden

These 1: Die Unmittelbarkeit psychischer Phänomene

Die Einzigartigkeit des Psychologieunterrichts besteht u.a. in der Möglichkeit, Unterrichtsinhalte ohne mediale Vermittlung betrachten zu können. Alle relevanten, nicht-klinischen psychischen Phänomene können im Unterricht direkt beobachtet und erlebt werden: Sich selbst hat jede(r) Lernende immer dabei.

 

These 2: Didaktische Erlebnisepisoden

Psychologieunterricht kann so organisiert werden, daß zentrale Inhalte der Psychologie als Didaktische Erlebnisepisoden dem unmittelbaren Erleben der Lernenden zugänglich gemacht werden. Die psychischen Phänomene werden dabei nicht "vermittelt", also mittelbar z.B. über ein Medium an die Lernenden herangebracht, sondern sie werden von Ihnen selber unmittelbar erlebt. Dieses unmittelbare Erleben ist dann Gegenstand des reflektierenden und theoretisierenden Unterrichts.

 

These 3: Paradigmatische Grundphänomene in Didaktischen Erlebnisepisoden

Didaktische Erlebnisepisoden können die Aufmerksamkeit der Lernenden auf Phänomene und Prozesse fokussieren, an denen sich paradigmenspezifische Sprachspiele besonders gut entwickeln lassen. Diese "Musterbeispiele" können im gesamten späteren Unterricht als exemplarische Erfahrungen, als "Anker" dienen, auf die sich spätere theoretische Erörterungen immer wieder beziehen können.

 

These 4: Die genetische Dramaturgie von Didaktischen Erlebnisepisoden

Didaktische Erlebnisepisoden können in vier dramaturgischen Phasen ablaufen:

Phase 1: Technische Vorbereitung der Situation: Schaffung von Konzentration, Verhaltensanweisungen für den Verlauf

Phase 2: Erlebnisphase: Unmittelbares Erleben des psychischen Phänomens

Phase 3: Beschreibung: spontane, unreflektierte, beschreibende (noch nicht erklärende oder interpretierende) Äußerungen über das Erlebnis

Phase 4: Analyse: zunehmende Strukturierung, Interpretation und Analyse, Einführung theoretischer Begriffe

 

These 5: Bedingungen für das Gelingen

- Experimentierfreude bei Lehrenden und Lernenden, Bereitschaft der Lernenden, "sich einzulassen"

- Ruhe und Konzentration in der Erlebnissituation (bei allen)

- Lehrende und Lernende akzeptieren spontane Erlebnis- und Gefühlsäußerungen

- die Lehrenden lenken nur die Organisation der Erlebnisepisode, in der Reflexionsphase sammeln sie und strukturieren höchstens durch Impulse

Folgerung: Der unbefangene Umgang mit Didaktischen Erlebnisepisoden muß von Lehrenden und Lernenden in der Praxis langsam erlernt werden.

 

These 6: Die Lernwirksamkeit Didaktischer Erlebnisepisoden

Didaktische Erlebnisepisoden bieten die Möglichkeit

- der Anknüpfung des Wissens an authentische Erfahrungen,

- der Induzierung selbständigen Entdeckens,

- der Erzeugung intrinsischer Motivation,

- der selbständigen Konstruktion von Wissen,

- der leichteren Generalisierung und des Transfers erworbener elementarer Begriffe,

- der Darbietung von Psychischen Phänomenen ohne implizite wissenschaftstheoretische Vorstrukturierung.

 

These 7: Einige didaktische Forderungen (Ausblick)

 

Alltagsrelevanz: Didaktische Erlebnisepisoden sollten sich auf psychische Phänomene beziehen, deren Relevanz für das Alltagsleben leicht gezeigt werden kann. (Keine "Sensationen" von nur esoterischer Bedeutung!)

 

Konflikt und Neugier: Sie gewinnen ihre Spannung entweder aus einem Konflikt zu den naiven Theorien der Lernenden oder aus ihrem Neuigkeitswert, indem sie nämlich Phänomene zugänglich machen, die in den naiven Alltagstheorien nicht vorkommen. (Also: keine Trivialitäten verwenden, die ohnehin allen klar sind!)

 

Theoretische Konstrukte und Erklärungen: Es sollten solche psychischen Phänomene durch Didaktische Erlebnisepisoden zugänglich gemacht werden, die im gesamten nachfolgenden wissenschaftlichen Unterricht immer wieder von Bedeutung sind. Sie sollten an mehreren Stellen als zentrale Erklärungskategorien einsetzbar sein. (Kein "Verheizen" von Effekten oder "schnell mal demonstrieren". Dies motiviert nicht, es zerstört auf Dauer die intrinsische Motivation!)

 

Problemorientierung: Didaktische Erlebnisepisoden können durch ihre eigene Dynamik einen inhaltlichen Zusammenhang erschließen. Der Aufbau des theoretischen Systems folgt (induktiv) dem Erlebnis (und nicht umgekehrt!)