2. Methodischer Schwerpunkt Nr. 2: Genetisches Prinzip und Selbständiges Entdecken

Der Aufbau "situierten Wissens" wird, wie oben dargestellt, nicht nur durch die Authentizität von Lernsituationen und durch erlebnisorientierte Verankerung begünstigt, er ist auch davon abhängig, daß den Lernenden methodisch genügend Raum zur Selbstkonstruktion des Wissens eröffnet wird. Damit ist nun genauer zu beschreiben, in welcher Weise Lernprozesse "selbstorganisiert" und "problemlösend" gestaltet werden können.

 

Die große Bedeutung des "Genetischen Prinzips" und des "Entdeckenden Lernens" innerhalb der Paradigmenorientierten Didaktik ist auf diesem Hintergrund leicht zu erkennen, und die Gründe hierfür seien aus der Sicht der konstruktivistischen Lerntheorie noch einmal kurz zusammengestellt:

 

a) Ein zentrales Ziel der Paradigmenorientierten Didaktik ist die Herausbildung anwendungsfähiger wissenschaftlicher Wahrnehmungsschemata. Diese sind prototypisch für "situiertes Wissen" im Sinne von Clancey (1993) und Greeno (1989).

 

b) Wesentliche Voraussetzung zur Ausbildung situierten Wissens ist der unmittelbare Erlebnisbezug des Wissens: Es sollte also hervorgehen aus authentischen Kontexten.

 

c) Der Erwerb situierten Wissens ist in seinem Wesen selbstkonstruktiv. Deshalb sollte er bevorzugt problemorientiert und selbständig-entdeckend verlaufen.

 

Die Einführung in die wissenschaftlichen Paradigmen der Psychologie ist eine didaktisch-methodische Kernaufgabe der Paradigmenorientierten Didaktik. Wie diese Aufgabe durch problemorientierte, entdecken-lassende und erlebnisorientierte Strategien zu lösen ist, soll nun exemplarisch gezeigt werden. Dabei wird gleichzeitig erkennbar, in welcher Weise wissenschaftlich-paradigmatische Strukturen der Psychologie didaktisch reduziert und methodisch vermittelt werden können.

2.1 Ein problemorientierter Einstieg in die Tiefenpsychologie

Der Einstieg in die Tiefenpsychologie, ihre typischen Wahrnehmungs- und Erklärungsschemata und ihre Methodik kann mit Hilfe einer Didaktischen Erlebnisepisode zum Phänomen des "motivierten Vergessens" erfolgen. Sie macht Vorgänge erlebbar, die z.B. aus tiefenpsychologischer Sicht von großem Interesse sind:

  • die "Verdrängung" peinlicher oder unangenehmer Vorstellungen, die mit dem Aufruf von bestimmten gefühlsbezogenen Begriffen einhergehen,
  • die "Introspektion" zur Bewußtmachung emotionaler und kognitiver Begleitprozesse,
  • die "Analyse" und "Deutung" von Material, das der Introspektion sowie dem Verdrängungsprozeß entstammt.

Damit lassen sich durch diese Erlebnisepisode im nicht-pathologischen Bereich sowohl die "unbewußte Dynamik" von "Abwehrmechanismen" als auch die methodisch bedeutsamen Prozesse der "Introspektion", der "Analyse" und der "Deutung" erlebnisorientiert erfassen.

 

(Übrigens ist das Phänomen des "motivierten Vergessens" durchaus auch aus kognitivistischer Perspektive interpretierbar, denn es macht einige Bedingungen für den "Abruf gespeicherter Informationen" erlebbar.)

 

(1) Einstieg

 

Demonstration: "Gedächtnislücken" (Didaktische Erlebnisepisode)

Jeder Kursteilnehmer soll innerhalb der nächsten 5 Minuten alle Begriffe für Gefühle auf ein leeres Blatt schreiben, die ihm einfallen. Dabei ist es weder erlaubt zu sprechen, noch "abzugucken".

 

(In der Regel beginnen die Vpn flüssig zu schreiben. Bei den ersten "versiegt" der Strom der Begriffe aber bald, und es gibt die ersten Pausen. Schon nach 2-3 Minuten schreibt kaum noch jemand. Diese Phase des erfolglosen "Nachdenkens" sollte auf jeden Fall abgewartet werden, damit jeder Teilnehmer diese Erfahrung machen kann. Erst dann bricht der Vl ab.)

 

(2) Nachgespräch, Festhalten der Eindrücke und unbeeinflußte Deutungen

 

Um die Didaktische Erlebnisepisode auszuwerten, muß, wie oben gezeigt, in der nachfolgenden Reflexion ihr "Erlebnisgehalt" bewußt gemacht werden:

 

Ein aufgezeichnetes Unterrichtsgespräch:

Lehrer: Was haben Sie erlebt?

Sch 1: Anfangs ging es ja ganz gut, aber dann fiel mir nichts mehr ein - und ich war ziemlich verwirrt, weil ich wußte daß das noch nicht alles sein kann.

Sch 2: Ja, ich dachte immer, das ist bestimmt noch nicht alles.

Sch 3: Ich dachte, ich hätte ein Brett vor dem Kopf. Ich hab ganz fest nachgedacht, aber da kam nichts mehr.

Sch 1: Ich habe dann nochmal durchgelesen, was ich schon hatte, aber das half auch nichts.

Sch 4: Ich hab´ nur ganz wenige Begriffe - das find´ ich ganz schön peinlich.

Sch 5: Das liegt aber daran, daß manche Begriffe nicht so bekannt sind.

Sch 4: Quatsch! Du kannst mir doch nicht erzählen, ich wüßte nur 7 Wörter für Gefühle!

Sch 6: Die sind einem bestimmt peinlich, darum vergißt man die.

Sch 7: Ja genau! Ich glaub´ man traut sich nicht, die hinzuschreiben.

Sch 8: Wie soll das gehen, ´sich nicht trauen´, wenn sie einem doch gar nicht einfallen?

 

(3) Systematische Auswertung - Einführung von Elementen tiefenpsychologischer Methodik

 

Jede Erlebnisepisode ist zwar ein selektives Ereignis, dennoch ist sie zunächst grundsätzlich "paradigmenfrei". (Sie enthält schließlich keinerlei Erklärungsvorgänge, sondern ist "reines" Erleben.)

Die ersten spontanen Schüleräußerungen lassen aber schon implizite Erklärungsschemata erkennen, allerdings mit unterschiedlicher "paradigmatischer Färbung":

  • "Die (vergessenen Begriffe) sind einem bestimmt peinlich ... " (tiefenpsychologisch)
  • "... manche Begriffe (sind) nicht so bekannt..." (kognitivistisch)
  • "... man traut sich nicht, sie hinzuschreiben." (behavioristisch)

Damit muß nun im nächsten Schritt die weiterführende Reflexion auf die gewünschte paradigmatische Perspektive hin akzentuiert und kanalisiert werden. Dies geschieht nun im Hinblick auf die tiefenpsychologische Deutung und die tiefenpsychologische Methodik durch implizite Lenkung der Aufmerksamkeit in Form weiterführender Nachfragen:

 

1. "Introspektion":

Einige Aspekte, die schon in der "Spontanphase" geäußert wurden, werden selektiv vertieft, und zwar durch folgende Fragestellungen:

  • Glauben Sie, daß Ihre Liste von Gefühlen vollständig ist?
  • Welches Gefühl hatten Sie in der letzten Phase, als Ihnen nichts mehr einfiel?
  • Was haben Sie gedacht oder gefürchtet?
  • Was ist Ihnen sonst noch aufgefallen während des Nachdenkens?

Fast alle Teilnehmer wissen natürlich, daß ihre Listen nicht vollständig sind. Manche berichten von einem "Gefühl der Leere im Kopf", als einem nichts mehr einfiel, obwohl man wußte, daß es noch viel mehr Gefühle gibt. Manche fühlten sich irritiert, weil sie sahen, daß andere "soviel schrieben", sie selber aber keine Idee mehr hatten.

 

2. "Analyse" der Lücken:

Nun soll jeder Teilnehmer feststellen, welche Gefühlsbereiche in seiner Aufzeichnung fehlen.

 

Zwei mögliche Methoden:

  • Mehrere Vpn lesen (freiwillig!) ihre Aufstellungen langsam und laut vor; alle anderen Vpn sollen bei jedem vorgelesenen Begriff feststellen, ob sie dieses oder ein ähnliches Gefühl notiert haben. Fehlt es, so wird es an eine besondere Stelle auf dem Blatt (als "Lücke") notiert. Nachdem mehrere Aufstellungen verlesen sind, versucht jeder Teilnehmer für sich, die gesammelten "Lücken" zu Gefühlsbereichen zusammenzufassen. (Empfehlenswert bei vertrauensvoller Atmosphäre im Kurs)
  • Der Vl bittet die Vpn, ihre Liste mit der folgenden zu vergleichen (es sind dies Gefühlsbereiche, die bei Oberstufenschülern erfahrungsgemäß häufig ausgelassen werden):

Überlegenheit, Überheblichkeit

Lust, Begierde

Scham, Schuld

Rache

Schadenfreude

Aggression

 
3. "Deutung" der Lücken:
  • Zunächst sollen alle Teilnehmer sich auf die Liste ihrer persönlichen "Lücken" konzentrieren, sich Situationen vorstellen, in denen die betreffenden Gefühle entstehen und sich die typischen Reaktionen ihrer sozialen Umgebung vergegenwärtigen. Sie sollen ihre emotionalen inneren Vorgänge bei diesen Vorstellungen festhalten.
  • Nun soll jeder für sich versuchen herauszufinden, ob es Zusammenhänge gibt zwischen den eigenen Lücken und den bisherigen individuellen Erfahrungen (z. B. in Familie, Schule oder Freundeskreis). (5 Minuten Bedenkzeit, in der nicht gesprochen wird.)

Anschließend wird gefragt, wer sich dazu äußern möchte.

Die Diskussion im Kurs ergibt meist, daß es sich bei den "Lücken" häufig um Gefühle oder Gefühlsbereiche handelt,

  • die gesellschaftlich negativ bewertet werden, also "verpönt" sind,
  • deren Eingestehen in der Öffentlichkeit mit Scham und Peinlichkeit verbunden ist,
  • die in der persönlichen Vergangenheit sanktioniert wurden.

 

4. Reflexion der vergangenen Erlebnisse:

Hier werden nun diejenigen Erlebnisse festgehalten (verbalisiert), die im Verlauf der "Analyse" entstanden sind; z.B. durch die folgenden Fragestellungen:

  • Was empfindet man, wenn man seine "Lücken" erkennt? Was denkt man?
  • Kann man die Deutung ("persönliche oder gesellschaftliche Tabus") nachvollziehen? Oder möchte man davon lieber "nichts wissen"?
  • Wie empfindet man die "Vorstellungsübung" zu den "Lücken"
 
(4) "Realisation": Einführung des tiefenpsychologischen Sprachspiels

 

Die tiefenpsychologische Erklärung

 

Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen lassen sich nun die zentralen paradigmatischen Elemente des tiefenpsychologischen Paradigmas verdeutlichen:

 

Das "Vergessen" bestimmter Gefühlsbegriffe, die spontanen "Erinnerungslücken", sind Ausdruck unbewußter Prozesse.

 

In der Kindheit gab es konflikthafte Situationen, in denen von starken Triebregungen ausgehende Gefühlszustände (z.B. "Lust, Begierde", "Rache", "Aggression") auf Sanktionen der sozialen Umwelt stießen oder peinliche und beschämende Konsequenzen nach sich zogen. (Man wurde etwa für eine solche Gefühlsäußerung betraft oder ausgelacht, wenn man davon sprach.) Jede bewußte Erinnerung an einen solchen Gefühlszustand war von nun an von negativen Affekten (hervorgerufen durch Strafe oder Peinlichkeit) begleitet.

 

Um diese nicht mehr erleben zu müssen, wurden die damit zusammenhängenden Erlebnisse ins Unbewußte verdrängt. So werden in aktuellen Situationen alle Prozesse gehemmt, zensiert, also abgewehrt, die eine Assoziation mit diesem negativen Affekt erzeugen können (also z.B. die Erinnerungen an den sanktionierten Gefühlszustand oder auch nur die Nennung des Begriffs). Es kommt zu Störungen in den bewußten Prozessen, deren Ursache dem Bewußten unbekannt bleibt: Man "vergißt" den Begriff.

 

Das psychische System erhält also durch die Verdrängung sein Gleichgewicht zurück und paßt sich so an die Forderungen der sozialen Umwelt an: Das Individuum lernt (unbewußt) welches kritische und welches unkritische Gefühle sind (welche "sich gehören" und welche nicht), es lernt völlig automatisiert, bedrohlichen Situationen (z.B. spontanen Äußerungen sanktionierter Gefühle) auszuweichen. In seinem Erleben und Verhalten entstehen "Lücken" (verdrängte Bereiche), die Bestandteil seiner Persönlichkeit werden.

 

Bei "Analyse" und "Deutung" sind typische "Abwehrmechanismen" zu erkennen.

  • Man fühlt sich "ertappt" bei der Einsicht in bestimmte Zusammenhänge und leugnet diese.
  • Gegen bestimmte Deutungen, aber auch gegen bestimmte Erinnerungen stellt sich "Widerstand" ein.

 

Übrigens: Auch die Kenntnisnahme der obigen tiefenpsychologischen Erklärung bedroht ebenfalls die Verdrängung! Sie wird deshalb häufig geleugnet. Man sucht Ersatzerklärungen (z.B. "Vergessen aus Zufall" oder "Vergessen, weil diese Begriffe im Alltag so selten vorkommen").

 

Widerstände geben aber wichtige Hinweise auf verdrängte Konflikte, so daß eine Widerstandsanalyse an diese Konflikte heranführt

 

Grundprinzipien der Tiefenpsychologie

 

Zentrale Gegenstände und elementare Zusammenhänge:

  • Unbewußte Prozesse: Grundlage jeden Erlebens und Verhaltens sind unbewußte psychische Prozesse.
  • Psychisches System: Diese Prozesse finden im psychischen System statt, das den Umgang mit wichtigen Bedürfnissen des Individuums regelt und diese in Einklang mit den Anforderungen der Außenwelt bringt.
  • Unbewußte Konflikte und Abwehrmechanismen: Zwischen den Bedürfnissen und den äußeren Anforderungen können Konflikte auftreten. Sind diese nicht lösbar, so können alle mit diesen Konflikten zusammenhängenden Vorstellungen verdrängt werden. Sie sind von da ab unbewußt. Die erneute Bewußtwerdung eines verdrängten Konflikts wird durch Abwehrmechanismen verhindert. Unbewußte Konflikte bestimmen dauerhaft die Funktionsweise des psychischen Systems.
  • Persönlichkeit und Charakter: Das psychische System bildet im Verlauf der Entwicklung des Individuums psychische Strukturen aus, relativ feste Strategien zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts. Diese bestimmen die Persönlichkeits- bzw. Charakterstruktur der Individuums.

 

Forschungsprinzipien:

  • Psychoanalytische Gesprächssituation: systematische Rekonstruktion der Lebensgeschichte z.T. durch Introspektion; Aufdeckung unbewußt gebliebener / gewordener Prozesse (z.B. durch "freie Assoziation", "Traumdeutung", "Widerstandsanalyse");
  • Theorieorientierte Deutung (hermeneutische Interpretation des vom Patienten erzeugten Materials); Theoriebildung durch Vergleich von Einzelfallstudien.
2.2 Ein problemorientierter Einstieg in die Ganzheitspsychologie

Das Problem, die Interpretation prinzipiell paradigmenoffener Erlebnisepisoden zu bündeln und auf ein bestimmtes Paradigma hin auszurichten, wurde oben durch selektive Fragestellungen des Lehrers gelöst. Hier soll nun eine weitere Strategie vorgestellt werden, die häufig auch von den Gründern eines neuen Paradigmas gewählt wird:

 

Man stellt typische und unterschiedliche paradigmatische Beispiele vor!

 

  • Dabei bedeutet typisch, daß ein Beispiel mit diesem paradigmatischen Interpretationsmuster ausgesprochen leicht zu erfassen ist, mit den Mustern "der anderen" jedoch äußerst schwer (oder sogar gar nicht).
  • Unterschiedlich sollten die Beispiele sein, damit ihre Familienähnlichkeiten erkannt werden können, in denen das "Typische" aufgehoben ist, denn das "Typische" läßt sich auch nachher keineswegs allein durch die verbal formulierten "Grundprinzipien" erfassen.

Damit kann im Unterricht durch gezielte Selektion von Phänomenen in Didaktischen Erlebnisepisoden methodisch doch noch eine Ausgangssituation geschaffen werden, die Schüler zum selbständigen Entdecken paradigmatischer Grundprinzipien führt.

 

(1) Vier Einstiegsdemonstrationen

Vorgestellt werden nacheinander vier Didaktische Erlebnisepisoden, die zunächst möglichst wenig interpretiert oder gedeutet werden sollen, sondern zu denen jeweils nur die Erlebniseindrücke deskriptiv verbal festgehalten werden:

 

Demonstration 1: "Scheinbewegung" nach Wertheimer

 

Auf einem Schirm (z.B. als Computersimulation) erscheinen im ständigen langsamen Wechsel die Balken (a) und (b) (vgl. Abb. 1). Die Wechselfrequenz wird nun stetig erhöht, und die Versuchspersonen sollen jeweils ihren "Eindruck" beschreiben. Danach wird die Wechselfrequenz langsam wieder gesenkt.

 

(Ab einer bestimmten Frequenz geht der Eindruck "zwei Balken erscheinen abwechselnd" über in: "ein Balken pendelt hin und her". Es entsteht der Eindruck einer "Scheinbewegung". - Beim Absenken der Wechselfrequenz verschwindet der Bewegungseindruck allerdings erst sehr spät; die Übergangsfrequenz ist hier deutlich niedriger als beim Entstehen des Phänomens.)

 

Demonstration 2: "Akustische Gestalten"

Ein völlig gleichförmiges (!) Ticken ertönt (erzeugt z.B. durch ein verdecktes Metronom oder durch einen Computer).

 

a) Der Vl "dirigiert" nun mit der Hand in der Luft einen Viervierteltakt, indem er jeweils ein Tickgeräusch "betont" und die drei nächsten nur andeutet. Die Vpn werden gebeten, durch Handzeichen anzuzeigen, wenn sie den vordirigierten "Viervierteltakt" hören!

(Schon nach wenigen Sekunden melden sich fast alle Vpn!)

 

Der Vl stoppt das Ticken und gibt vor, das Gerät "umzustellen". Dann setzt er das weiterhin völlig gleichförmige Ticken fort und dirigiert nun einen "Dreivierteltakt".

(Mit demselben Ergebnis !)

 

b) Nach einem zweiten vorgetäuschten "Umstellen" werden die Vpn dann gebeten, ohne Hilfe den" kaum merklichen Takt" (Dreiviertel oder Vierviertel) aufzuspüren und ganz leise auf dem Tisch nachzuklopfen.

(Nach kurzer Zeit klopft die gesamte Gruppe denselben Takt!

Erst dann wird die Tatsache der Gleichförmigkeit der Tickgeräusche aufgeklärt.)

 

Demonstration 3: "Unvollendete Rhythmen"

Der Vl klopft einen bekannten Rhythmus und wiederholt ihn einige Male. Beim letzten Mal allerdings läßt er den letzten Schlag weg.

 

Die Vpn werden nach ihrem "Eindruck" gefragt.

(Meist wird von einer "Spannung" berichtet, einem Bedürfnis, den Rhythmus zu beenden.)

 

Demonstration 4: "Rasterbild":

Ein gerastertes und stark vergrößertes Foto (Rasterbild, vgl. Abb. 2) wird mit der Rückseite nach oben im normalen Leseabstand den Lernenden vorgelegt. Auf Kommando soll es nun umgedreht auf dieselbe Stelle wieder auf den Tisch zurückgelegt und dann betrachtet werden. (Von sich weghalten oder auf andere Weise die Leseentfernung ändern, ist nicht gestattet.)

 

Die Schüler sollen nun eine Minute lang versuchen festzustellen, was auf dem Bild dargestellt ist (ohne miteinander zu sprechen!). Die weitaus meisten Schüler sind unter diesen Bedingungen dazu aber nicht in der Lage. Dann wird vom Lehrer das Bild angehoben (mit der Bitte um Aufmerksamkeit!) und ganz langsam von den Betrachtern entfernt ... .

 

In der Regel äußern Schüler hier deutlich ihr Erstaunen, das mit dem zunehmenden Erkennen des Bildgegenstandes einhergeht.

 

(2) Der "Akt des Entdeckens"

Die Schüler erhalten nun die Aufgabe (z.B. in Partnerarbeit), nach den Familienähnlichkeiten zu suchen:

 

Aufgabe: "Finden Sie Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen vorgestellten Phänomenen".

(Wichtig ist hier, daß die Formulierung nicht die Suche nach Ähnlichkeiten zwischen allen Phänomenen suggeriert. Dies würde im Sinne Wittgensteins nämlich nicht zu Familienähnlichkeiten führen, sondern zum logischen Durchschnitt aller Eigenschaften!)

 

(3) Ergebnisse

Die zusammengetragenen Ergebnisse enthalten in großer Häufigkeit die folgenden Aspekte (hier in üblicherweise vorkommenden Schülerformulierungen):

  • Aus verschiedenen einzelnen Bestandteilen entsteht etwas völlig Neues:

aus dem Wechsel zweier Balken die Bewegung eines Balkens

aus einzelnen Tickgeräuschen ein Takt

aus den Takten einzelner Personen wird ein gemeinsamer Gruppen-Takt

aus einzelnen Klopfgeräuschen ein Rhythmus

aus einzelnen Rasterpunkten ein Gegenstand.

  • Dies geschieht meist "automatisch", man kann sich nicht "dagegen wehren".
  • Wenn das Neue einmal da ist, "geht es schwer wieder weg"; es "will sich halten"; es "will zusammenbleiben".

 

Damit sind umgangssprachlich die wesentlichen Prinzipien der Ganzheitspsychologie erfaßt.

 

(4) "Realisation" durch Einführung des paradigmatischen Sprachspiels

 

Die Fortführung des Unterrichts besteht nun im Sinne der Wagenschein´schen "Realisation" darin, das neue Wahrnehmungs- und Erklärungsschema verbal als "Grundprinzipien des Paradigmas" herauszuarbeiten, und damit das Ganzheitspsychologische Sprachspiel einzuführen.

 

Der Lehrer beginnt damit, das Sprachspiel an einer der Demonstrationen vorzustellen, und zwar durch stetigen Rückbezug auf die Details dieser Demonstration. Hier soll dies an "Demonstration 1", Wertheimers klassischer paradigmatischer Musteraufgabe der "Scheinbewegungen" geschehen:

 

Grundprinzipien der Ganzheitspsychologie
  • Zentrale Gegenstände und elementare Zusammenhänge:
  • Das Phänomen der Ganzheit (Emergenzprinzip): Aus der wechselseitigen Beziehung (hier: örtliche und zeitliche Position) von Teilen (hier: von Einzelbalken) entsteht ein prinzipiell neues emergentes Phänomen (hier: eine "Scheinbewegung"), dessen Eigenschaften die Teile nicht haben. Es entsteht eine Ganzheit (oder "Gestalt").
  • Das Grundgesetz der Selbstorganisation: Der Prozeß der Ausbildung von Ganzheiten (Gestaltbildung) erfolgt autonom; Ganzheiten sind selbstorganisiert. (hier: Man kann nicht verhindern, daß bei steigender Wechselfrequenz plötzlich die Bewegung entsteht.)
  • Das Grundgesetz des dynamischen Gleichgewichts (Prinzip der Selbststabilisierung): Ist eine Ganzheit einmal entstanden (hier: die Scheinbewegung), dann setzt sie jeder Veränderung (hier z.B.: der Verlangsamung der Wechselfrequenz), insbesondere aber ihrer Zerstörung Widerstand entgegen. (Der Bewegungseindruck bleibt auch dann noch bestehen, wenn die Frequenz schon wieder weit unter diejenige abgesunken ist, bei der die Bewegung vorher entstanden ist).
  • Forschungsprinzipien:
  • Möglichst ganzheitliche Erfassung aller Phänomene in möglichst realistischen Situationen; Zerlegung in Einzelteile ("Reduktion") zerstört das emergente Phänomen, also die zu betrachtende Ganzheit. Theoriebildung durch Verallgemeinerung von experimentellen Demonstrationen.

 

(5) Die selbständige Einübung des Sprachspiels

 

Die Schüler bekommen nun die Aufgabe, das Sprachspiel selbständig mit den anderen Demonstrationen "durchzuspielen"; d.h. die Begriffe und Zusammenhänge "anzuwenden".

 

Lösungen: Ganzheiten in den obigen Demonstrationen

 

Demonstration Teile wechselseitige Beziehung Ganzheit, emergentes Phänomen
"Scheinbewegungen" Balken (a)

Balken (b)

Lage, abwechselndes Erscheinen "Scheinbewegung"
"Akkustische Gestalten" Einzeltöne in gleichmäßigen Abständen ertönen "Takt"
  Einzeltakt bei jeder Vp (Einzelnorm) gleichzeitiges Klopfen verschiedener Takte gemeinsamer "Takt" (Gruppennorm)
"Unvollendete Rhythmen" einzelnes Klopfgeräusch zeitliche Anordnung "Rhythmus"
"Rasterbild" einzelne Rasterpunkte räumliche Lage "Bild"

 

Außerdem wird an jedem Beispiel aufgezeigt, in welcher Weise die Prinzipien "Selbstorganisation" und "Dynamisches Gleichgewicht" interpretierbar sind.

2.3 Ein problemorientierter Einstieg in den Behaviorismus

Natürlich sind Didaktische Erlebnisepisoden nicht die einzige Möglichkeit des Problemorientierten Einstiegs in eine paradigmatische Forschungs-, Denk- und Interpretationsform. Auch über die Vergegenwärtigung und anschließende systematische Analyse von ausgewählten Alltagssituationen und klassischen Experimenten ist der "Einstieg" in eine zentrale Theorie und damit in eine paradigmatische Sichtweise möglich.

 

Vorgegeben wird zunächst folgende Aufgabenstellung, die in Gruppen zu lösen ist:

 

(1) Einstieg mit Alltagsbeispielen

Alltagssituationen

Im Folgenden werden mehrere Alltagssituationen beschrieben, in denen angenommen wird, daß Lernprozesse stattfinden:

  1. Nach dem Essen hilft ein Kind, den Tisch abzuräumen, und wird dafür von den Eltern sehr gelobt.
  2. Ein Jugendlicher stiehlt im Kaufhaus eine CD, ohne erwischt zu werden.
  3. Die Familie sitzt beim Essen. Der Hund setzt sich vor den Tisch, hebt die Pfote und bekommt etwas zu fressen.
  4. Ein Schüler ruft im Unterricht witzige Bemerkungen in die Klasse. Die Klasse lacht.
  5. Eine Schülerin hat wegen ungenügender Vorbereitung der Klassenarbeiten Taschengeldentzug. Als sie die nächste Arbeit sorgfältig vorbereitet, bekommt sie wieder Taschengeld.
  6. Ein Hund wurde in einem Zimmer eingesperrt. Er springt an der Tür hoch und tritt dabei zufällig auf die Klinke, so daß die Tür sich öffnet.
  7. Ein Autofahrer fährt vorschriftsmäßig an einer Radarfalle ("Starenkasten") vorbei und wird diesmal nicht geblitzt.
  8. Eine Schülerin kommt in eine neue Klasse und beginnt dort, wie gewohnt, den "Ton anzugeben". Die neuen Mitschüler reagieren darauf aber nicht.
  9. Mit den gewohnten Handgriffen läßt sich der neue Staubsauger nicht mehr einschalten.
  10. Ein Kind läuft ohne zu zögern auf die Straße. Ein Auto kann gerade noch bremsen, so daß das Kind sehr erschrickt.
  11. Ein Jugendlicher erzählt beim Treffen mit seine Freunden von seinem neuen Hobby, dem Briefmarkensammeln. Die Freunde beginnen, sich lustig zu machen und ihn zu hänseln.
  12. Weil er die Schuldigen nicht finden kann, gibt der Lehrer der ganzen Klasse eine Strafarbeit. Von da an arbeiten auch die guten Schüler nicht mehr mit.

 

Aufgabe:

a) Was ist allen Situationen gemeinsam? Was genau wird hier unter "Lernen" verstanden?

b) Worin unterscheiden sich die Beispiele 1 bis 7 von den Beispielen 8 bis 12?

c) Charakterisieren Sie außerdem die folgenden Unterschiede: zwischen 1,2,3,4 und 5,6,7, sowie zwischen 8,9 und 10,11,12

 

Mögliche Lösungen:

  • zu a: In allen Beispielen besteht Lernen darin, daß sich die Häufigkeit von Verhalten in einer bestimmten Situation verändert. Die Veränderung ist davon abhängig, welche Konsequenz dem Verhalten unmittelbar (kontingent) folgt.
  • zu b: In 1-7 nimmt die Auftretenshäufigkeit zu, (diese Konsequenzen werden "Verstärker" genannt), in 8-12 nimmt sie ab.
  • zu c: In 1-4 besteht der Verstärker darin, daß durch das Verhalten ein zusätzlicher ("angenehmer") Reiz hinzukommt (positiver Verstärker).
  • In 5-7 wird als Folge des Verhaltens ein ("unangenehmer") Reiz entfernt oder vermieden (negativer Verstärker).
  • Bei 8 und 9 bleibt eine Verstärkung aus (Löschung).
  • In 10-12 hat das Verhalten eine aversiven ("unangenehmen") Reiz zur Folge. (Strafe)

 

Die Schüler sollen also zunächst die Grundaspekte des behavioristischen Apperzeptionsschemas (hier am Beispiel des operanten Konditionierens) kennenlernen, und zwar durch intuitive Erfassung der "Familienähnlichkeiten" verschiedener Alltagsbeispiele und anschließende analytische Verbalisierung. Erst danach wird das elaborierte Sprachspiel samt der theoretischen Fachbegriffe sowie die paradigmatische Methodik an einem klassischen Musterbeispiel (einem typischen "Skinner-Experiment") erarbeitet, wobei die Schüler wiederum durch geeignete Fragestellungen "problemorientiert" und in der Gruppe "selbständig entdeckend" lernen:

 

(2) Ein klassisches Experiment

Ein Standardexperiment zum operanten Konditionieren (nach Skinner)

 

In einer "Skinner-Box" sitzt eine Taube, die lernen soll, auf ein bestimmtes Signal hin (z.B. "rote Lampe leuchtet") auf die Scheibe S zu Picken.

 

1. Lernphase: Aufbau einer operanten Reaktion durch Verstärkung

 

Die farbigen Lampen sind aus; die Taube bewegt sich in unkontrollierten, zufälligen Bewegungen in der Box; dabei pickt sie einmal zufällig auf die Scheibe S, worauf sofort (kontingent) der Futterbehälter angehoben wird, so daß die Taube ein Korn picken kann. Das Picken hat also die Konsequenz, daß kontingent Futter gegeben wird, und durch diese Konsequenz (der Futtergabe) steigt die Wahrscheinlichkeit, daß die Taube nun öfters auf die Scheibe pickt: es steigt die Auftretenshäufigkeit der operanten Reaktion "auf die Scheibe Picken".

 

2. Lernphase: Diskriminationslernen

Es wird nun unregelmäßig jeweils eine der farbigen Lampen eingeschaltet. Die Taube pickt nun, wie oben gelernt, zwar häufig auf die Scheibe, sie bekommt aber nur Futter, wenn gerade eine der Lampen aufleuchtet. Nach einigen Durchgängen hat sie gelernt, nur noch zu picken, während eine der Lampen brennt, sie unterscheidet (diskriminiert) also zwischen den Reizsituationen "eine Lampe brennt" und "keine Lampe brennt".

 

Im nächsten Schritt bekommt sie nur Futter, wenn beim Picken auf die Scheibe die grüne Lampe brennt. Dadurch wird die Auftretenshäufigkeit für die Reaktionen "Picken bei grün" erhöht, die für "Picken bei rot" und "Picken bei gelb" sinkt. Die Taube beginnt also nun, auch zwischen den drei Lampen zu unterscheiden (Reizdiskrimination). Sie lernt, die operante Reaktion "auf die Scheibe picken" nur auszuführen, wenn "grünes Licht" leuchtet. Sie hat also die Bedingungen zu unterscheiden gelernt, unter denen die operante Reaktion verstärkt wird oder nicht ("Diskriminationslernen").

 

Aufgabe:

a) Wenden Sie auf das obige Experiment die folgenden Begriffe an und beschreiben Sie damit die untersuchten Zusammenhänge; Begriffe: diskriminativer Reiz, operante Reaktion, Verhaltenskonsequenz, Kontingenz, Auftretenswahrscheinlichkeit, positiver Verstärker, Löschung, Reizdiskrimination).

 

b) Versuchen Sie eine ähnliche Beschreibung für die obigen Alltagsbeispiele; verwenden Sie wieder die entsprechenden Begriffe.

 

c) Stellen Sie den Zusammenhang in einem modellhaften Schema dar.

 

d) Vergleichen Sie das Vorgehen Skinners mit dem von Wertheimer in der Ganzheitspsychologie (vgl. dazu die Demonstration der Scheinbewegungen).

 

Mögliche Lösungen:

 

zu d): Unterschiede zwischen dem Experiment von Skinner und den Demonstrationen Wertheimers:

- Quantifizierbarkeit der Daten (bei Skinner leichter)

- Objektivität (bei Skinner besser)

- Variablenkontrolle (bei Skinner leichter möglich)

- Realitätsnähe (bei Wertheimer größer)

 

zu c):

 

 

(3) "Realisation" durch Einführung des paradigmatischen Sprachspiels

 
Grundprinzipien der behavioristischen Psychologie

 

Zentrale Gegenstände und elementare Zusammenhänge:
  • Objektiv beobachtbares Verhalten: Behavioristische Psychologen befassen sich ausschließlich mit dem Verhalten des Individuums, also seinen nach außen beobachtbaren Aktivitäten und deren Bedingungen. (Subjektive Empfindungen aber auch Denkprozesse werden nicht untersucht, da sie nicht objektiv erfaßbar sind.)
  • Reizkontrolle: Behavioristische Psychologen nehmen an, daß letztlich jedes individuelle Verhalten durch äußere Reize ausgelöst wird. Jedes Verhalten steht damit unter der Reizkontrolle der Außenwelt. (Verhalten wird also nicht als "autonom", vom Individuum her bestimmt angenommen)
  • Reiz-Reaktions-Verknüpfungen - Das "Black-Box-Modell": Grundmodell jeder behavioristischen Theorie ist das Reiz-Reaktions-Schema (S-R-Schema) oder das "Black-Box-Modell". Äußere Reize wirken auf den Organismus ein, dessen innere Vorgänge nicht (objektiv) beobachtbar sind. Sie lösen dort jedoch Aktivitäten (Reaktionen) aus, die nach außen objektiv erfaßt werden können. Alle psychologischen Gesetzmäßigkeiten können somit beschrieben werden als Zusammenhänge zwischen bestimmten Reizen und bestimmten Reaktionen, also als Gesetzmäßigkeiten von Reiz-Reaktions-Verknüpfungen

.

  • Umweltanpassung durch Lernprozesse: Alle Individuen sind in der Lage, sich den Bedingungen ihrer Umwelt durch dauerhafte Veränderungen ihres Verhaltens anzupassen. Jede neue, dauerhafte und von der Außenwelt hervorgerufene Änderung von Reiz-Reaktions-Verknüpfungen wird Lernen genannt.
 
Forschungsprinzipien:

Die experimentelle Methodik: Behavioristen gehen bei der Entwicklung ihrer Theorien streng experimentell vor: Reize und Reaktionen müssen unter kontrollierten Bedingungen (meist im Labor) meßbar und beobachtbar sein. Jedes Experiment muß außerdem jederzeit reproduzierbar sein, d.h. von beliebigen anderen Experimentatoren nachvollzogen werden können.

2.4 Ein problemorientierter Einstieg in die Psychobiologie
(1) Einstiegsdemonstration: Das Kindchenschema
A B C D

 

E F G H

 

Die obigen Köpfe von Kindern und Schafen werden vorgelegt (oder mit Lichtschreiber projiziert) mit der Aufgabe, das Alter zu schätzen und in eine Rangreihe zu bringen ("1" für das Jüngste, "4" für das Älteste)

 

(Richtige Lösung: Kinder: A: 3; B: 2; C: 1; D: 4; Schafe: E: 4; F: 1; G: 3; H: 2)

 

Die Ergebnisse des Kurses werden tabellarisch zusammengestellt.

 

Es ergeben sich in der Regel hohe Übereinstimmungen bei den Altersschätzungen von Tieren und Menschen; mögliche Quantifizierung des Zusammenhangs durch Berechnung der Rangkorrelation.

 

(2) Spontane emotionale Reaktionen

 

 

Aufgabe:

 

a) Beschreiben Sie den ersten emotionalen Eindruck beim Anblick der obigen Figuren.

 

b) Wie verhalten sich Menschen in der Regel kleinen Kindern und jungen Tieren gegenüber?

Beschreiben Sie und geben Sie Beispiele an.

 
(3) Analyse des "Kindchenschemas"

 

Aufgabe: Betrachten Sie nun die "Strichmännchen" und die anderen Figuren und überlegen Sie, welche Aspekte der Darstellung den Eindruck des "Niedlichen", "Jungen" vermitteln.

 

                     

 

Ergebnisse:

  • Jüngere Lebewesen haben einen im Vergleich zum Rumpf größeren Kopf.
  • Babies haben eine höhere Stirn im Vergleich zur übrigen Gesichtsgröße.
  • Die Augen von Babies erscheinen größer im Vergleich zum Gesicht ("Kulleraugen").

 

Aufgabe:

Stellen Sie Hypothesen auf zu folgenden Fragen:

  • Welche Menschen sind in der Lage, in der obigen Weise jüngere Lebewesen von älteren zu unterscheiden?
  • Welchen Nutzen, welche Funktion könnte diese Fähigkeit haben? Für wen?
  • Welchen Einfluß könnten Kultur und soziale Umgebung auf diese Fähigkeit haben?

 

(4) Eigenschaften und biologische Funktion des Kindchenschemas

Die Auffassung der Psychobiologie zum Kindchenschema

Das Kindchenschema ist ein genetisch bedingtes, angeborenes Wahrnehmungsschema. Es sorgt dafür, daß wir junge Lebewesen (insbesondere menschliche Kinder) "automatisch" erkennen, meist ohne daß wir uns der auslösenden Merkmale bewußt werden.

Zu den Merkmalen des "Kindchenschemas" gehören vor allem die typischen Proportionen junger Menschen oder Tiere:

  • im Vergleich zum Rumpf deutlich größerer Kopf
  • eine hohe Stirn im Vergleich zum übrigen Gesichtsbereich
  • kreisförmiges Gesicht
  • im Vergleich zum übrigen Gesicht große Augen ("Kulleraugen")

 

Darstellungen, in denen diese Proportionen stark übertrieben werden (z.B. Kopfgröße gleich Rumpfgröße bei Comicfiguren) wirken keineswegs schockierend oder abschreckend, sondern noch "süßer" und "niedlicher", obwohl ein Lebewesen mit solchen Deformationen in der Realität kaum lebensfähig wäre (z.B. weil es schon seinen Kopf gar nicht tragen könnte)

Das Kindchenschema bereitet auf ganz bestimmte Verhaltensweisen vor:

 

a) Bei der Wahrnehmung von Kleinkindattributen stellt sich eine "emotional getönte Zuwendungsreaktion" ein ("oh, wie niedlich!").

 

b) Das Kindchenschema bringt erwachsene Individuen aber auch Kinder in eine emotionale Grundstimmung, von der aus eine erhöhte Bereitschaft zu Schutz und Pflege junger Lebewesen entsteht.

 

Das Kindchenschema ist universell, d.h. es tritt auf unabhängig von der kulturellen Zugehörigkeit, unabhängig von Alter oder Geschlecht eines Individuums.

 

Es hat eine adaptive Funktion; d.h. es sorgt dafür, daß der Nachwuchs geschützt wird, und trägt damit bei zur Erhaltung und Weitergabe der Gene.

 

(5) "Realisation" durch Einführung des paradigmatischen Sprachspiels

Grundprinzipien der Psychobiologie

 

Zentrale Gegenstände und elementare Zusammenhänge:

  • Verhalten und seine genetische Basis: Zentraler Gegenstand der Psychobiologie ist das Verhalten von Mensch und Tier. Unter Verhalten versteht man jede autonome Aktion eines Individuums mit dem Ziel der Sicherung des Überlebens oder der Fortpflanzung. Es unterliegt wesentlichen genetischen Einflüssen; d.h., Gene bilden den Rahmen für bestimmte Verhaltenstendenzen.
  • Selektion und adaptive Funktion des Verhaltens: Die genetischen Anteile des Verhaltens bzw. der Verhaltenstendenzen unterliegen genetischer Mutation und damit der biologischen Selektion. Weil das Verhalten Überleben und Fortpflanzung sichert, hat es entscheidenden Einfluß darauf, ob die ihm zugrundeliegenden Gene weitergegeben werden. Damit werden auf Dauer nur solche Verhaltenstendenzen genetisch vererbt, die eine biologische Funktion der Anpassung (adaptive Funktion) erfüllen.
  • Situative auslösende Bedingungen: Aktuelles Verhalten entsteht aus einer Wechselwirkung von äußeren und inneren auslösenden Bedingungen. (Äußere Bedingungen: z.B. soziale, biologische oder physikalische Situationen oder Signale; innere Bedingungen: z.B. physiologische und psychische Prozesse oder Regelmechanismen)
  • Entwicklung durch Anlage-Umwelt-Interaktion: Verhalten entwickelt sich bei jedem Individuum durch Wechselwirkung von Einflüssen

- der sozialen, biologischen und physikalischen Umwelt einerseits

- und den genetisch festgelegten Anteilen, dem genetischen Rahmen, andererseits.

  • Reproduktive Fitneßmaximierung: Der Prozeß der natürlichen Evolution führt stets zu einer Verbesserung der Anpassungsfunktion des Verhaltens.

 

Forschungsprinzipien:

 

Durchgeführt werden alle naturwissenschaftlich empirischen Verfahren von Freilandbeobachtungen in natürlichen Lebensräumen (Feldstudien) über künstlich nachgeahmte ("ungestörte") Laborsituationen bis zu streng kontrollierten Laborexperimenten. Bedingung dabei ist die Wahrung des funktionalen Bezuges: Alle verwendeten empirischen Verfahren müssen so angelegt sein, daß die biologische Funktion des Verhaltens erkennbar bleibt.

 

Eine wichtige Methode ist der Vergleich von Verhaltensstrukturen zwischen verschiedenen Arten und (beim Menschen) verschiedenen Kulturen ("vergleichende Verhaltensforschung").

2.5 Ein problemorientierter Einstieg in den Kognitivismus
(1) Das Experiment von Bruner und Postman (Unterrichtsexperiment)

1. Versuchsdesign

 

Versuchspersonen: alle Schüler des Kurses.

 

Auf einem Computer-Monitor erscheinen nacheinander tachistoskopisch acht verschiedene Wörter etwa in der Größe der Monitorbreite. Vier der acht Wörter sind obszöne/sexuelle Begriffe: Bumsen, Pimmel, Ficken, Pissen ("Tabuwörter"), die vier anderen können als "neutral" angesehen werden: Himmel, Backen, Bremse, Wissen ("Neutralwörter").

  • Unabhängige Variable: Begriffsgattung ("Tabuwörter", "Neutralwörter")
  • Abhängige Variable: Erfassungsschwelle bei der tachistoskopischen Darbietung

 

Die Vpn erhalten die Anweisung, die dargebotenen Wörter so früh wie möglich zu erkennen, und im Zweifel auch zu raten.

 

Im ersten Durchgang beträgt die Projektionsdauer ca. sieben Hundertstel Sekunden, und in der Regel wird keines der Wörter erkannt. Bei jedem Durchgang wird die Darbietungsdauer dann automatisch um eine Hundertstel Sekunde verlängert, wobei die Reihenfolge der Wörter sich ändert. Die ersten Schätzungen finden bei ca. 9 - 11 Hundertstel Sekunden statt. Der Versuch wird fortgeführt, bis alle Vpn alle Wörter richtig erkannt haben.

 

2. Auswertung und Interpretation der Daten

 

Bestimmung der individuellen Erfassungsschwellen:

 

Haben alle Vpn alle Begriffe richtig erfaßt, dann stellt jede Vp anhand eines Lösungsblattes für jedes der acht Wörter die Zeit für das erste richtige Erfassen fest. Diese gilt als Maß für die Erfassungsschwelle dieses Wortes.

Anschließend werden die Erfassungsschwellen für alle vier "Tabuwörter" und die für die vier "Neutralwörter" addiert. Um systemimmanente Störungen wie Sehschärfe der Vp oder Abstand zum Monitor zu eliminieren, wird die Erkennungszeit N für Neutralwörter von der Gesamtzeit T für die Tabuwörter subtrahiert: 

 

T - N.

  • Ist nun T - N > 0 , so hat die jeweilige Vp für das Erfassen der Tabuwörter länger gebraucht ("repressor"/"Abwehrer"),
  • Ist T - N < 0 , dann war die Erfassungsschwelle für Tabuwörter niedriger ("sensitizer"/"Sensibilisierer").

 

 

Interpretation:

 

Abwehrer: Braucht eine Person für das Erkennen von Tabuwörtern deutlich länger als für Normalwörter, so liegt bei ihr für Tabuwörter eine erhöhte Wahrnehmungsschwelle vor. Personen, die kritische und unangenehme Reize später, also erst nach erheblich längerer Darbietung wahrnehmen, werden Abwehrer ("repressor") genannt.

 

Sensibilisierer: Dagegen heißen Personen, deren Wahrnehmungsschwelle für kritische Reize niedriger liegt, Sensibilisierer ("sensitizer"). Diese sind für kritische Reize empfindlicher und erkennen sie schon bei viel geringerer Intensität als sie dies für normale, unkritische Reize tun.

 
(2) Verallgemeinerung der Ergebnisse

Aufgabe:

 

Finden Sie Alltagsbeispiele für Situationen, in denen Abwehrer kritische Reize später, d.h. erst bei höherer Intensität wahrnehmen. Erläutern Sie die jeweiligen Konsequenzen für das Zusammenleben.

 

Mögliche Lösungen:

 

Auf Probleme hinweisende Anzeichen werden erst spät erkannt in den Bereichen

 

a) familiäre- /Partnerschaftsprobleme und Konflikte (Depression, besondere "Hochstimmung" ...)

b) psychische Probleme in der Familie (Sucht-, Suizidprobleme, Kriminalität)

c) gesellschaftliche Armut / Obdachlosigkeit, Suchtphänomene in der Gesellschaft

d) eigene Fehler und Schwächen

e) eigene Leistungsgrenzen und -probleme

f) unangenehme / peinliche Erinnerungen

g) durch mimische oder gestische "Mikrosignale" ausgedrückte Ablehnung durch andere

 
(3) Ein klassisches Gedächtnis- und Speichermodell

Aufgabe:

 

In Darstellungen des Experimentes von Bruner & Postman wird häufig von einer "Paradoxie" gesprochen, die wie folgt beschrieben wird: Abwehrer sind Personen, die kritische Reize später erkennen. Um aber beurteilen zu können, ob ein Reiz überhaupt kritisch ist, müssen sie ihn doch zunächst einmal erkannt haben!

 

Das Problem wird häufig dadurch gelöst, daß man "bemerkte" und "unbemerkte" Verarbeitungsprozesse unterscheidet. Welche Vorgänge müssen im Einzelnen im Inneren des Gehirns ablaufen, damit ein "Tabuwort" überhaupt abgewehrt werden kann? Welche davon sind unbemerkt?

 

Aus den einzelnen Beiträgen kann nun das folgende einfache Speichermodell synthetisiert werden, das an Sperlings Theorie des sensorischen Speichers (vgl. Sperling, 1963) und Broadbents klassischen Blockdiagrammen orientiert ist (vgl. Broadbent, 1987, Original 1958):

 

(4) "Realisation" durch Einführung des paradigmatischen Sprachspiels

Grundprinzipien der kognitivistischen Psychologie

 

Zentrale Gegenstände und elementare Zusammenhänge:

  • Informationsverarbeitung und Kognitionen: Kognitivistische Psychologen nehmen an, daß alles Erleben und Verhalten auf Prozessen der Informationsverarbeitung basiert. Dazu speichert das Individuum sein Wissen über die Welt in organisierter Form als Kognitionen (kognitiven Repräsentationen). Diese enthalten die Informationen über konkrete Gegenstände und Situationen, über andere Menschen wie auch über das Individuum selber, über Handlungen und problemlösende Verhaltensweisen, über Affekte und Emotionen.
  • (Im Experiment von Bruner & Postman: Buchstabenformen, Wortbedeutungen oder auch die Vorstellung von den peinlichen Empfindungen beim Bewußtwerden eines Tabuwortes)
  • Grundlegende kognitive Prozesse: Kognitionen unterliegen bestimmten Verarbeitungsprozessen. Sie können z.B. miteinander verglichen werden, und es können Übereinstimmungen oder Diskrepanzen festgestellt werden.
  • Im Experiment von Bruner & Postman: die Diskrepanz zwischen der Erwartung einer konfliktfreien Wahrnehmung (bei Abwehrern) und dem Ergebnis der Entschlüsselung bei einem "Tabuwort")
  • Zielgerichtete und plangesteuerte Aktivitäten: Alle Aktivitäten eines Individuums sind zielgerichtet und plangesteuert. Sie können sowohl völlig innerhalb des Individuums ablaufen als auch nach außen erkennbar sein. Sie können der bewußten Kontrolle unterliegen oder auch automatisch ablaufen. Im Bereich des äußeren Verhaltens und des bewußten Denkens werden solche Aktivitäten Handlungen genannt. Zielgerichtete Aktivitäten finden stets statt und beginnen, wenn eine Diskrepanz zwischen einzelnen Kognitionen auftritt, und sie haben das Ziel diese Diskrepanz zu beseitigen.
  • (Beseitigung der Diskrepanz bei Abwehrern durch Wahrnehmungsverzögerung)
  • Das Individuum als autonomes homöostatisches System
  • Damit werden alle Individuen als informationsverarbeitende, plangesteuerte homöostatische Systeme angesehen, die ihre Ziele durch autonome Aktivitäten absichtsvoll erreichen können.

 

Forschungsprinzipien:

 

Objektive, quantitative empirische Modelle: Kognitivistische Forschung ist gekennzeichnet durch den Versuch der Anwendung möglichst objektiver, quantitativer empirischer Modelle. Diese reichen von streng kontrollierten Laborexperimenten über Feldexperimente bis zu repräsentativen Befragungen. Dabei werden elaborierte Techniken der Datenerhebung verwendet.

2.6 Zusammenfassung

Psychologieunterricht kann so organisiert werden, daß die darin verlaufenden Lernprozesse problemorientiert und auf Entdeckendes Lernen hin gerichtet sind. Neues Wissen entwickelt sich so genetisch aus bestehendem. Dies ermöglicht jedem Schüler die autonome Konstruktion individuellen (situierten) Wissens (vgl. Mandl u.a., 1993a, 1993b), und es fördert eine wissenschaftliche Arbeits- und Fragehaltung (vgl. Wagenschein, 1970a; Bruner, 1973b).

 

Durch geeignete Selektion von Phänomenen ist es möglich, ein Paradigma der Psychologie "gelenkt entdecken" zu lassen. Dazu wurden hier für alle fünf Paradigmen problemorientierte Einstiege vorgestellt. Aus diesen können sowohl die Grundelemente der paradigmatischen Sprachspiele als auch die typischen paradigmatischen Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster entwickelt wurden.