3. Methodischer Schwerpunkt Nr. 3: Alltagsorientierte Anwendungen

Durch die ersten beiden Schwerpunkte wurden methodische Prinzipien vorgestellt, die Authentizität und Situiertheit des Wissens und damit seine selbständige Konstruktion fördern. Sie sollen "fluides" psychologisches Wissen entstehen lassen und geben Anlaß zu einer gewissen (theoretisch) begründeten "Hoffnung auf Transfer".

 

Der dritte methodische Schwerpunkt richtet sich nun auf die unmittelbare Anwendung psychologischen Wissens in unterschiedlichen authentischen Kontexten:

 

Nach Kuhn (1989) erschließt sich dem "Neuling" die Bedeutung einer paradigmatischen Struktur durch die konkrete Ausführung des entsprechenden Sprachspiels. Für den Transfer psychologischen Wissens ist es deshalb von großer Bedeutung, daß neben den typischen "wissenschaftlichen paradigmatischen Anwendungen" auch "paradigmatische Alltagsanwendungen" vorgenommen werden. Damit ist die Frage nach geeigneten Alltagsbeispielen und nach Kriterien für deren Auswahl der erste Hauptgegenstand des methodischen Schwerpunktes "Alltagsorientierte Anwendungen".

 

Darüber hinaus erlaubt das Paradigmenkonzept nun den Aufbau einer ganz konkreten Heuristik "Paradigmenorientierter Alltagsanwendung", die den Transferprozeß psychologischen Wissens gezielt systematisiert. Die Analyse von Prozessen der Alltagsanwendung zeigt nämlich, daß Paradigmen bei der Suche nach theoretischen Erklärungen und wissenschaftlich begründeten Handlungsschemata wichtige Hilfsmittel sein können, weil sie diese Suche zu strukturieren helfen.

 

Die Konstruktion einer solchen Heuristik "Paradigmenorientierter Alltagsanwendung" aus dem Hempel-Oppenheim-Schema und ihre Vermittlung im Unterricht bildet den zweiten Teil dieses methodischen Schwerpunktes. Es werden Unterrichtsübungen vorgestellt, durch die Schüler auf der operativen Ebene einerseits lernen können, Alltagssituationen zu analysieren und zu erklären, andererseits können sie konkrete paradigmenorientierte Handlungsschemata einüben, die ihre soziale Handlungkompetenz zu erweitern helfen.

3.1 Paradigmatische Alltagsbeispiele im Psychologieunterricht
3.1.1 Triviale Beispiele für triviale Theorien?

Betrachtet man die Anwendungsbeispiele in vielen Lehrbüchern der Psychologie, dann gewinnt man häufig den Eindruck, daß auch deren Autoren nicht unschuldig daran sind, wenn der Eindruck von "Lebensferne" und "Trivialität" (Bovet, 1993b) grundlegender psychologischer Erklärungsmodelle entsteht:

 

Zimbardo (1992) nennt z.B. für das Thema "Reizgeneralisierung" als einzige Anwendung das Beispiel eines Tieres, dessen konditionierte Fluchtreaktion auf typische Raubtierreize auch dann ausgelöst wird, wenn es das Raubtier aus einem anderen Winkel sieht, oder wenn das Raubtier ein verändertes Geräusch verursacht (a.a.O.; S. 234). Mietzel und Krech & Crutchfield beschränken sich zum selben Phänomen gar auf den "kleinen Albert" und seine Angst vor Kaninchen und Pelzmänteln (vgl. Mietzel, 1979; S. 99; Krech & Crutchfield, 1992; Bd 3, S. 21), und Nolting & Paulus (1990) belassen es bei der Andeutung, die Angst vor einem strengen Vater werde übertragen auf andere Autoritätspersonen (a.a.O.; S. 73). Die traurige Liste solch äußerst knapper "Anwendungsbeispiele" läßt sich beliebig fortsetzen bis hin zum typischen "Raucherbeispiel", das seit Generationen meist als einzige Illustration für Festingers "Theorie der kognitiven Dissonanz" herhalten muß (vgl. z.B. Stroebe u.a., 1992; S. 157 oder: Frey & Gaska, 1993; S. 276).

 

Möglicherweise wird aber der Erklärungswert einer psychologischen Theorie vom Lernenden umso höher eingeschätzt, (a) je mehr verschiedene alltägliche Phänomene sie erklärt und (b) je "brisanter", also je wichtiger diese Phänomene für den Lernenden sind. Insgesamt ist wohl eine Theorie gerade so "relevant" wie ihre Anwendungsmöglichkeiten. (Womit die laienhafte Einschätzung gar nicht so weit neben der wissenschaftstheoretischen liegt!)

 

Erschöpft sich nun die demonstrierte Anwendungsbreite theoretischer Konstrukte auf einige wenige "esoterische" Beispiele, so legt dies wohl den Schluß nahe, diese Theorie "könne" auch gar nicht mehr. Die Trivialität und "Irrelevanz" der Anwendungsbeispiele suggeriert sehr bald auch die Trivialität und "Irrelevanz" der Theorien:

 

Sollte aber Kuhns Annahme stimmen, der "Gehalt" eines (paradigmatischen) theoretischen Konstruktes erschließe sich aus den Musterbeispielen (vgl. Kuhn, 1989), und sollte nach Wittgenstein (1984) die "Bedeutung" eines Konstruktes tatsächlich durch seinen konkreten "Gebrauch" konstituiert sein, dann läßt die Enge des Anwendungsspektrums für die Lernenden nur den Schluß zu, es handele sich bei dieser Theorie um eine völlig "lebensferne" Konstruktion. ("Reizgeneralisierung" gibt es bei Raubtieren oder bei kleinen Kindern!) Die Neigung, selber Transfer herzustellen, wird wenig gefördert, wenn der Schüler sieht, daß auch Lehrer oder Lehrbuchautoren den unmittelbaren experimentellen Kontext kaum verlassen. (Aus welchen Gründen dies auch immer geschehen mag!)

 

3.1.2 Exkurs: "Paradigmatische Anwendungen" im Unterricht

Unter der Prämisse der wissenschaftspropädeutischen Zielsetzung einerseits sowie des Transfers auf Alltagssituationen andererseits, ergeben sich für den Psychologieunterricht zwei große Bereiche, aus denen "unterrichtliche Musterbeispiele" zu entnehmen sind: die Anwendungsbereiche Wissenschaft und Alltag.

 

Der "Erwerb" eines Paradigmas durch den wissenschaftlichen Nachwuchs geschieht nach Kuhns (1989) Auffassung in der Wissenschaft durch die konkrete Bearbeitung verschiedener paradigmatischer Musterbeispiele. Dabei erschließen sich dem Lernenden die Familienähnlichkeiten dieser Beispiele, die den eigentlichen Inhalt des Paradigmas ausmachen. Die "Bedeutungen" sind festgelegt durch die Regeln des paradigmatischen Sprachspiels, und diese ergeben sich aus dem konkreten Gebrauch (vgl. Wittgenstein, 1984).

 

Hier sind nun im Unterricht, in didaktisch reduzierter Form, möglichst authentische Beispiele wissenschaftlicher Problemlösung auszuwählen, und es bieten sich natürlich die historischen "Ur-Beispiele" an, die "klassischen Experimente" und "paradigmatischen Anwendungen", die von den Gründern der Paradigmen angegeben wurden. Im methodischen Schwerpunkt "Genetisches Prinzip und Entdeckendes Lernen" wurde dies z.B. realisiert

  • für das tiefenpsychologische Paradigma: durch Deutung des motivierten Vergessens ("Verdrängung"),
  • für das ganzheitspsychologische Paradigma: durch die Deutung der klassischen Experimente von Wertheimer zu den "Scheinbewegungen",
  • für das behavioristische Paradigma: durch Deutung eines klassischen Skinner-Experiments,
  • für das psychobiologische Paradigma: durch Deutung des Lorenz´schen "Kindchenschemas",
  • für das kognitivistische Paradigma: durch Deutung von Sperlings Gedächtnistheorie des Sensorischen Speichers mit Hilfe eines Broadbent´schen Blockdiagramms.

 

Folgt man Kuhns Argumentation nun in den Anwendungsbereich Alltag, dann ergibt sich daraus die Forderung, auch hier nach möglichst typischen Beispielen zu suchen, die sowohl einen Eindruck von der inhaltlichen Substanz als auch von der Reichweite des paradigmatischen Modells vermitteln.

 

Im Unterschied zu vielen paradigmatischen Beispielen aus dem Anwendungsbereich "Wissenschaft" sind Alltagsbeispiele einem alltäglichen, authentisch erlebten und erlebbaren Kontext entnommen. Sie bieten darüber hinaus ein breit gefächertes Spektrum von "Bedeutungen" an und erweitern damit (im Sinne Wittgensteins) die inhaltliche Substanz der theoretischen Konstrukte (z.B.: Nicht nur Speichel- oder Schreckreaktionen können "konditionierte Reaktionen" sein, sondern auch das "mulmige Gefühl" des Lehrers, bevor er eine "schwierige" Klasse betritt, oder das "Weihnachtsgefühl" beim Erklingen einer bestimmten Melodie oder beim Gewahrwerden eines bestimmten Duftes).

 

Erst Alltagsbeispiele geben einen Eindruck von der Reichweite eines theoretischen Konzeptes! Über sie können sowohl das Erklärungsspektrum als auch die Grenzen eines Konstruktes demonstriert werden (z.B.: Ist das "Finden eines mathematischen Beweises" sinnvoll als "konditionierte Reaktion" interpretierbar?)

 

3.1.3 Kriterien für die Auswahl von Alltagsbeispielen

 

Alltagsbeispiele, die zur wissenschaftlichen Erklärung ausgewählt werden, können für Schüler von unterschiedlicher Wichtigkeit ("Relevanz") sein, sie können aber auch danach unterschieden werden, wie neu die zu erwartende Erklärung für die Schüler ist ("Neuigkeitswert"). Damit lassen sich zur Beurteilung der Eignung von Alltagsbeispielen unter den oben genannten Zielsetzungen vorläufig zwei große Kriterienbereiche angeben:

 

(1) "Relevanz": Häufigkeit und "Brisanz" der zu erklärenden psychischen Alltagsphänomene

 

Zur wissenschaftlichen Erklärung ausgewählte psychische Phänomene des Alltags können einer vergangenen, aktuellen oder zukünftigen Problemlage der Schüler entnommen sein, die von Ihnen für besonders wichtig gehalten wird. In diesem Fall haben diese Beispiele eine besondere "Brisanz" und sind auch von besonderer "Lebensnähe".

 

Nicht selten glauben aber Psychologielehrer, "Lebensnähe" dadurch herzustellen zu können, daß sie zu immer "härteren" psychopathologischen Beispielen greifen, und sie führen als Begründung und als Indikator für deren "Relevanz" an, daß Schüler sich für solche Beispiele "ganz besonders interessieren". Unter der Zielsetzung der Bewältigung des Alltags scheint mir aber das Gegenteil der Fall: Mögen Beispiele von sexuellen oder kriminellen Pathologien auch die "voyeuristischen Instinkte" der Schüler bedienen, irgendwelche alltagsrelevanten Elemente, mit denen Schüler ihre gegenwärtige oder zukünftige Wirklichkeit reflektieren oder verändern können, enthalten sie selten (wenn sie denn nicht eigens auf die "normale Lebenswirklichkeit" generalisiert werden).

 

In alltagsrelevanter Weise "brisant" sind aber solche Beispiele, die ungelöste alltägliche Probleme repräsentieren oder unerklärte Phänomene durchsichtig machen (wie z.B. die Beobachtung, daß es alltägliche Phobien gibt, die weiterbestehen, obwohl man längst "weiß", daß sie "sinnlos" oder "unnötig" sind - oder die Feststellung, daß man sich in Prüfungssituationen gemäß bestimmter Kausalattributionen verhält, von denen man "gar nichts weiß".)

 

Neben persönlicher "Brisanz" ist aber sicher auch die Häufigkeit von Bedeutung, mit der ein Phänomen im Alltag beobachtet werden kann. Selbst wenn Schüler (z.B. von einer Spinnenphobie) nicht selbst unmittelbar betroffen sind, so werden sie solche Phänomene dennoch für "relevant" halten, wenn sie in ihrer Lebenswelt relativ häufig vorkommen (wie sie dies z.B. in ihrer eigenen Klasse bei der Erlebnisepisode "Spinnenphobie" beobachten können).

 

Ich möchte dies zusammenfassend formulieren als

 

Auswahlkriterium "Relevanz"

Es sollten für den Psychologieunterricht bevorzugt solche psychischen Alltagsphänomene als Beispiele ausgewählt werden, die in der Lebenswirklichkeit der Schüler relativ häufig sind, oder die für den vergangenen, aktuellen oder zukünftigen Alltag der Schüler besonders wichtig sind.

 

(2) "Neuigkeitswert": Psychische Phänomene in neuem Licht

 

Ein Anwendungsbeispiel für ein wissenschaftliches Erklärungs- oder Handlungsschema hat "Neuigkeitswert", wenn es beim Lernenden einen kognitiven Konflikt (im Sinne Berlynes (s.o.)) erzeugt. Solche kognitiven Konflikte können z.B. entstehen, wenn es für dieses beispielhafte Alltagsphänomen oder -problem bereits andere Erklärungen oder Bewältigungsstrategien gibt, die mit dem neuen Konstrukt nicht übereinstimmen.

 

Hier sind zwei Quellen vorhandener psychologischer Erklärungs- oder Handlungsschemata denkbar: Einerseits ist es möglich, daß für das gewählte Phänomen bereits Vorstellungen oder Handlungmuster auf dem Hintergrund der ("traditionellen") psychologischen Alltagstheorien und -verfahren bestehen, die nun bei diesem Anwendungsbeispiel mit dem neu gelernten Muster kollidieren. Andererseits können aber auch andere, vorher (im Unterricht) gelernte wissenschaftliche Erklärungs- oder Handlungsschemata gerade bei diesem psychischen Phänomen zu anderen Erklärungen führen oder sogar unvereinbare Handlungen nahelegen.

 

  • Beispiele für Konflikte mit Alltagstheorien und -verfahren

- Mütter "wissen", daß sie ihr Kind möglichst vor Ängsten in Schutz nehmen sollten. - Die Theorie des Klassischen Konditionierens zeigt, daß so die Angstreaktionen niemals gelöscht werden können.

 

(Nach dem obigen Kriterium ist dieses Beispiel für Schüler meist nicht persönlich "brisant", aber dennoch "relevant" wegen der Häufigkeit, mit der es im Alltag vorkommt!)

 

- Lehrer, die einen Schüler bei einer Prüfung ausgiebig "zappeln" lassen, behaupten, dies sei, "um ihm noch eine Chance zu geben".

 

- Die Tiefenpsychologie bietet als Erklärung die "Übertragung" unbewußter Identifizierungen aus der Kindheit des Lehrers an.

(Diese Phänomen ist auch im Schüleralltag zwar selten, dafür umso brisanter!)

 

  • Beispiele für Konflikte mit bereits bekannten wissenschaftlichen Erklärungs- oder Handlungsschemata:

- Nimmt ein Schüler als Ursache für "Schuleschwänzen" auf dem Hintergrund seines tiefenpsychologischen Vorwissens eine "unbewußte Dynamik" an, so wird er überrascht sein, wenn ihm ein alternatives ganzheitspsychologisch-systemisches Modell dieses Phänomen aus den situativen Bedingungen erklärt. (Schuleschwänzen ist Bestandteil einer positiven Rückkoppelung zwischen dem betreffenden Schüler und den Strafen durch seine Erzieher.)

 

- Ebenso wird er verblüfft sein, wenn Trennungsängste bei kleinen Kindern behavioristisch zu "desensibilisieren" sind, während sie tiefenpsychologisch nach Maßnahmen verlangen, die das "Urvertrauen" stärken. (Desensibilisierungsmaßnahen fördern selten das Urvertrauen, während die Stärkung des Urvertrauens häufig Vermeidungsverhalten impliziert.)

Diese beiden, den Neuigkeitwert bestimmenden Konflikttypen führen zusammengefaßt zum

 

Auswahlkriterium "Neuigkeitswert"

Als Anwendungsbeispiele neuer theoretischer Konstrukte sollten im Psychologieunterricht bevorzugt solche psychischen Alltagsphänomene ausgewählt werden, die für die Schüler besonderen Neuigkeitwert besitzen; d.h. das neue Konstrukt gerät an diesem Beispiel entweder mit den "Alltagstheorien" oder mit bereits gelernten wissenschaftlichen Modellen in Konflikt.

 

Bei der Unterrichtsplanung lassen sich natürlich weder die Häufigkeit oder "Brisanz" eines psychischen Phänomens noch der Neuigkeitswert einer überraschenden Erklärung mit ausreichender Sicherheit im Voraus abschätzen. Damit ergibt sich für den Psychologielehrer die Notwendigkeit, die "Welt" seiner Schüler kennenzulernen, und zwar sowohl ihre alltägliche Erlebniswelt als auch die Welt ihrer psychologischen Erklärungs- und Wahrnehmungsmuster. Aufschluß über die "Relevanz" von Beispielen kann er nur bekommen, wenn er in der Unterrichtsdurchführung ihre Reaktionen auf eine neue Erklärung beobachtet, oder indem er ihre Aufmerksamkeit registriert, wenn von einem Alltagsphänomen die Rede ist. In jedem Fall wird hier die Auswertung einer langen Unterrichtstätigkeit nötig sein.

 
3.1.4 "Paradigmatische Alltagsanwendungen" in verschiedenen Paradigmen der Psychologie

Für die verschiedenen psychologischen Paradigmen (elementaren paradigmatischen Erklärungs- und Handlungsschemata) sollen nun Alltagsbeispiele vorgestellt werden, die nach meiner Einschätzung und Unterrichtserfahrung die beiden "Relevanz"-Kriterien erfüllen, anderseits einen "kognitiven Konflikt" erzeugen zwischen wissenschaftlichen und Alltagserklärungen.

Die jeweilige Art der symbolischen Repräsentation wird hier offengelassen, so daß jeweils eine "Einkleidung" in verschiedene Formen denkbar ist, z.B.:

  • als Didaktische Erlebnisepisoden (wie das obige Beispiel "Spinnenangst", vgl. S. 27)
  • als "Fallstudien", meist in verbaler Darstellung (vgl. die obigen Fallbeispiele des "Herrn F.", S. 82 und des "kleinen Sascha", S. 77)
  • als Film
  • als Bericht über ein authentisches Erlebnis
  • als verbale Beschreibung eines fiktiven Erlebnisses
  • als Rollenspiele oder Simulationen (von authentischen oder fiktiven Situationen)

 

(1) Alltagsbeispiele im tiefenpsychologischen Paradigma

 

Neuigkeitswert und "Brisanz" besitzen für Schüler solche Beispiele und deren tiefenpsychologische Erklärung, die die Wirkung unbewußter dynamischer Prozesse im Alltag "belegen". Insbesondere "Abwehrmechanismen" und "Übertragungsphänomene" kommen in Alltagserklärungen selten vor, so daß hier sehr häufig ein kognitiver Konflikt entsteht:

  • das "Vergessen" kritischer Inhalte (z.B. von unangenehmen vergangenen Erlebnissen wie Trennungs- oder Demütigungserlebnisse der Kindheit, aber auch das "Vergessen" von "peinlichen", unangemessenen Gefühlen, einschließlich deren begrifflicher Darstellung)
  • die verharmlosende Interpretation von Träumen, "Leugnung" eines latenten Trauminhalts (z.B. indem der manifeste Truminhalt für die "eigentliche" Aussage gehalten wird).
  • ein hart strafendes Elternteil, das behauptet, es (pädagogisch) "gut zu meinen", dabei aber eine unbewußte aggressive Dynamik auslebt. (Übertragung und Rationalisierung)
  • die Demütigung Schwächerer durch Autoritätspersonen (z.B. Der Chef "amüsiert sich" auf Kosten eines Angestellten) (Kompensation eigener verdrängter Demütigungen)
  • Schüchternheit als Übertragung von erlebten, aber verdrängten "Niederlagen"
  • Trennungsängste (in Form von Eifersucht oder der Unfähigkeit, berechtigte Interessen durchzusetzen) als Übertragungsphänomene
  • "Überempfindlichkeit", schnell "beleidigt" sein (als unbewußte Dynamik früher narzißtischer Kränkungen)
  • Auswahl eines Lebenspartners (als unbewußte Fortsetzung positiver Kindheitserlebnisse oder als Kompensation von verdrängten Mangelerlebnissen)

 

Die "Relevanz" dieser Beispiele entsteht hier häufig durch eine neuartige Form der Erklärung (hoher Neuigkeitswert) "brisanter" und häufig vorkommender Phänomene. Gleichzeitig läßt sich damit auch die "Reichweite" des tiefenpsychologischen Erklärungstyps kritisch beleuchten.

 

(2) Alltagsbeispiele im ganzheitpsychologischen Paradigma

 

Das Wertheimersche "-Phänomen" der Scheinbewegungen und seine ganzheitspsychologische Deutung erzeugen zwar in der Regel kurzfristig hohes Interesse, ihre Bedeutung für die Erklärung von Alltagsphänomenen wird jedoch von Schülern fast nie ohne Hilfe erkannt. Dies kann auch kaum dadurch erreicht werden, daß mehrere Beispiele aus der (Allgemeinen) Wahrnehmungspsychologie "nachgeschoben" werden (wie z.B. "Laufschriften", Bewegung im Film, Töne und Melodien oder die Bewegung von Vogelschwärmen). Erst ein Transfer auf weniger isolierte Alltagsbereiche führt zu "Erstaunen", das wohl meist aus dem Neuigkeitswert dieser Erklärungen stammt:

 

Eine "Person" wird als "Ganzes" erkannt, unbekannte Eigenschaften werden aus bekannten "interpoliert", ein Persönlichkeitsbild baut sich dynamisch unter Berücksichtigung "naiver Persönlichkeitstheorien" auf. Die Wahrnehmung einer Person ist prinzipiell der Aufbau von "Vorurteilen" (Urteilen vor jeder Wahrnehmung) und ohne diese nicht möglich. (Z.B.: ein neuer Lehrer betritt die Klasse ... )

 

  • Die Übertragung der ganzheitspsychologischen Vorgänge der Personenwahrnehmung auf das Phänomen der "gesellschaftlichen Vorurteile" ("die Deutschen" als Ganzheit)
  • Denk- und Problemlöseprozesse als selbstkonstruktive Vorgänge (z.B. die "Lösung" hat man noch lange nicht, wenn man die Lösungselemente besitzt)
  • Emergenzphänomene in Gruppen, z.B.:

- die "schlimme" Klasse, die aus "netten" Individuen besteht

- der "Klassenclown", der dies nur in "seiner" Klasse ist, nicht jedoch in einer anderen

- Alkoholismus, Bulimie, Soziopathie usw. als Symptome eines "kranken Familiensystems"

  • "Gefühle" als Ganzheiten aus kognitiven, physiologischen und Verhaltenselementen
  • Die "soziale Konstruktion der Wirklichkeit":

- Phänomene werden für "wirklich" gehalten, obwohl sie Ergebnis emergenter sozialer "Einigungsprozesse" sind ("Wahnphänomene" wie der vermeintliche Klopfrhythmus in der obigen Demonstration "Akkustische Gestalten")

- Die "Zuweisung" einer sozialen Rolle durch eine "self-fulfilling-prophecy": Ein neuer Schüler wird von einem Mitschüler, der ihn kennt, als "unfreundlich" angekündigt; man begegnet ihm "reserviert" und ist so am Entstehen seiner Unfreundlichkeit beteiligt.

 

(3) Alltagsbeispiele im behavioristischen Paradigma

  • Klassisches Konditionieren

Schüler kann wenig überraschen, daß man vor dem Autofahren Angst bekommt, wenn man einen Unfall hatte, oder vor einem Lehrer, der einen besonders schlecht behandelt hat. Dies ist Bestandteil ihrer Alltagstheorien. Bleibt es bei solchen Beispielen, so "demonstriert" dies eher die "Trivialität" und "Nutzlosigkeit" dieser Theorie, weil sie schließlich auch nicht mehr kann als die Alltagstheorie.

 

Besonderes Interesse finden aber konditionierte emotionale Reaktionen immer dann, wenn Widersprüche zwischen begleitenden Kognitionen auftreten: Die Spinnenangst tritt auch auf, "obwohl man doch genau weiß, daß Spinnen harmlos sind", und sie verschwindet auch nicht, "wenn man sich sagt, daß ...". Hier liegt die Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit der "naiven Alltagstheorie" offen zu Tage.

 

Neuigkeitswert hat auch die Erklärung solcher emotionaler Reaktionen, deren Herkunft den Schülern entweder unklar ist (häufig werden Gefühle als autonom und unsteuerbar angesehen), oder die als "angeboren" gelten. Insbesondere die Rekonstruktion möglicher Konditionierungsprozesse ist dann häufig von hohem Neuigkeitswert:

 

- Die Liebe zur Mutter, zur eigenen Familie und deren Mitgliedern, das Geborgenheitsgefühl in der Familie, die Liebe zur Heimat (unkonditionierte Reize: Versorgung, Ernährung, Schutz usw.)

- Liebe zum Geld

- Angst vor Zärtlichkeit / Sexualität (unkonditionierte Reize: z.B. häufig unbemerkte aversive Reaktionen bei frühen Sozialpartnern)

- Beklommenheitsgefühle, ein bestimmtes Thema anzusprechen

- "verbotene" (sanktionierte) Wörter nicht sagen können

- emotional getönte Einstellungen; positive/negative emotionale Reaktionen auf bestimmte Dinge

 

  • Operantes Konditionieren

Zu erfahren, daß Menschen bei negativen Konsequenzen ihr Verhalten seltener ausführen, kann "straferprobte" Schüler kaum überraschen. Wie beim Klassischen Konditionieren ist auch dieser "Grundmechanismus" des Lernens der "Alltagspsychologie" weitgehend bekannt. (Und das Beispiel: "Es ist weniger wahrscheinlich, daß das Kind erneut auf die heiße Herdplatte faßt, wenn es sich wieder beim Herd aufhält." (Zimbardo, 1992; S. 244) demonstriert wohl eher, wie unnötig es ist, in jahrelanger Forschungsarbeit mit aufwendigen empirischen Verfahren eine experimentell begründete Theorie aufzubauen, die dann auch nichts anderes erklärt als die Alltagstheorie!)

 

Ebenso wie beim Klassischen Konditionieren ist es auch hier wieder die Vielfalt der Phänomene, die mit diesem Lernprinzip erklärt werden können, also die überraschend große Reichweite der Theorie, die den Neuigkeitswert ausmacht. So sind insbesondere solche Situationen von größerem Neuigkeitswert, in denen "Verstärker" in einer bisher unbekannten oder unbeachteten Form vorkommen, z.B.:

 

- unbeabsichtigte Verstärker,

  • "Zurechtweisen" als vermeintliche "Strafe" für einen häufig störenden Schüler führt zu immer mehr Störungen
  • Ausweichen vor Angstsituationen führt (als negative Verstärkung) zu immer mehr Vermeidungsverhalten. ("Beschützende" Erziehung kann angstkonservierend sein - "Ich möchte nach dem Unfall vorläufig nicht mehr Auto fahren.")

 

- Unterschiedliche Formen von Verhaltenskonsequenzen in der sozialen Interaktion, insbesondere nonverbale soziale Signale:

  • jemanden, der zu sprechen beginnt, ansehen / oder nicht ansehen (positiver Verstärker oder Bestrafung)
  • spontan oder sehr verzögert (nicht spontan) zustimmen
  • nach reger Gesprächsbeteiligung plötzlich schweigen
  • nach Schweigen sich plötzlich wieder am Gespräch beteiligen
  • jemanden häufiger/seltener ansehen

 

(4) Alltagsbeispiele im psychobiologischen Paradigma

 

Vielleicht war es die Überbetonung des "Angeborenen" in der Alltagspsychologie vor der Jahrhundertmitte, mit Sicherheit aber haben die rassistische Pervertierung biologistischer und sozialdarwinistischer Erklärungsformen durch den Nationalsozialismus und deren Übergeneralisierungen und Vereinfachungen dazu geführt, daß "angeborene Strukturen des Verhaltens" in Alltagstheorien wenig vorkommen, mitunter sogar verpönt sind. So kann man im Unterricht die Erfahrung machen, daß schon elementare biologische Interaktions- und Signalsysteme völlig unbekannt sind, von der psychobiologisch-ethologischen Interpretation ganz zu schweigen. Aus diesem Grund ist die Erörterung beinahe aller Phänomene für Schüler von großem Neuigkeitswert. Hier einige Beispiele:

 

  • Einzelne biologische Signale

- Pupillensignale: Öffnen und Schließen der Pupille in Abhängigkeit vom affektiven inneren Zustand, unbewußte Wahrnehmung und Reaktion sowie unbewußtes Aussenden (offene Pupillen wirken meist "angenehmer")

 

- Augenbrauengruß: Heben und Senken der Augenbrauen nach einem genauen zeitlichen Ablaufschema (freundlich grüßen oder "gespielt" freundlich sein)

 

  • Interaktives Verhalten

- Territorialverhalten: Markierung eines Platzes mit Kleidungsstücken ("freihalten"), "heimliche" Aufteilung des gemeinsamen Arbeitstisches; Reaktionen bei Verstößen

 

- Blickverhalten: häufigeres Ansehen einer dominanten Person, diese schaut seltener die weniger dominanten an

 

- Verhaltensspiegelung: gegenseitige Imitation zur Herstellung von "Einverständnis" und Harmonie

 

- Herstellen und Ausdruck von sozialer Dominanz z.B. durch

  • ungefragtes Eindringen in den persönlichen Nahraum
  • Beanspruchung von Territorium
  • Blickverhalten

 

- "Feinfühligkeit" in der Verhaltenskoordination (Erkennen, korrektes Entschlüsseln, korrektes und promptes Reagieren auf Signale)

  • Verhaltenskoordination beim Händedruck: Erkennen der Absicht, Synchronisierung der Annäherungsbewegungen, gegenseitige Abstimmung des Drucks und der Druckveränderung, Erkennen der Abschlußsignale (Die einzelnen Elemente lassen sich am leichtesten erfahren, wenn man durch Ausprobieren die Wirkung einzelner Fehlreaktionen kontrolliert: zu spät reagieren, zu fester Druck, zu lange Halten der anderen Hand, usw.)
  • Verhaltenskoordination im Sexualverhalten und bei Zärtlichkeiten

 

  • Elemente des Bindungs- und Pflegeverhaltens

- Kindchenschema (als "angeborener Auslösemechanismus" für Schutz- und Pflegeverhalten)

 

- Ammensprache (als übersprachliches Kommunikationsmuster Säuglingen und kleinen Kindern gegenüber)

 

- biologische Verhaltenselemente beim Umgang mit Säuglingen (Augenabstand, Klopfrhythmus, Synchronisierung der Augenlinien ...)

 

- Feinfühligkeit beim Bindungsverhalten (Verhaltenskoordination mit kleinen Kindern)

 

(5) Alltagsbeispiele im kognitivistischen Paradigma

Wie jedes paradigmatische Wahrnehmungs- und Erklärungsschema so erzeugt auch das kognitivistische seine "Binsenweisheiten": Man kann nicht alles behalten (Wahrnehmung und Gedächtnis arbeiten selektiv); Einstellungen beeinflussen das Verhalten; man versucht stets, sein Verhalten widerspruchsfrei zu erhalten; man möchte bei anderen möglichst hohes Ansehen erzielen ... .

 

Wesentlich spannender sind da Phänomene und Prozesse, die der Alltagspsychologie fremd sind:

 

  • Es gibt Selektions- und Bewertungsprozesse vor dem bewußten Erkennen

"Repressors" neigen dazu, angsterzeugende Informationen vor der bewußten Verarbeitung zu schützen, während "Sensitizer" diese geradezu bevorzugt wahrnehmen; solche "kritischen" Informationen können z.B. sein:

 

- Familien-, Partnerschaftsprobleme und -konflikte, psychische Probleme in der Familie

 

- gesellschaftliche Armut / Obdachlosigkeit, Suchtphänomene in der Gesellschaft

 

- eigene Fehler und Schwächen, eigene Leistungsgrenzen und -probleme

 

- Anzeichen von Krankheiten

 

- unangenehme / peinliche Erinnerungen

 

- durch mimische oder gestische "Mikrosignale" ausgedrückte Ablehnung durch andere

 

  • Das Phänomen der Wahrnehmunghypothesen

Man nimmt bevorzugt das wahr und so wahr, worauf die Wahrnehmung vorher "eingestellt" wurde:

 

- Durch Emotionen vorstrukturierte Wahrnehmung: Mißtrauen, Verletzlichkeit / Empfindlichkeit, Pessimismus, Eitelkeit (z.B.: man "sieht" nur Negatives, und interpretiert nur negativ ...)

 

- Vom Selbstkonzept vorstrukturierte Wahrnehmung:

 

Ein Schüler hält sich für besonders intelligent. Er nimmt nun z.B. vor allem die Situationen wahr (Selektion), in denen er erfolgreich schwierige Probleme löst; Situationen, in denen dies nicht gelingt, "vergißt" oder "übersieht" er.

 

Ein Schüler hält sich für besonders unbegabt in Mathematik. Als der Lehrer ihn einmal für eine gelungene Aufgabe lobt, empfindet er dies als "Beleidigung" (Interpretation), weil er annimmt, die Aufgabe sei viel zu leicht.

 

  • Unbewußte Kausalattributionen

Die Annahmen über die Gründe von Erfolg oder Mißerfolg sind keine Wahrheiten, sondern sie sind "willkürlich" und von vorausgegangenen Erfahrungen abhängig.

3.2 "Paradigmenorientierte Alltagsanwendung" psychologischen Wissens - eine Heuristik

Während es im vorangegangenen Abschnitt um die inhaltliche Auswahl von Beispielen für die Anwendung und "Illustration" paradigmatischer Strukturen ging, wird nun der operative Aspekt von Alltagsanwendungen betrachtet. Wie kann man vorgehen, so wird gefragt, wenn man in problematischen Situationen des Alltags nach einer psychologischen Erklärung sucht, und wie findet man brauchbare wissenschaftlich begründete Handlungsschemata zu deren Lösung? Insbesondere aber: wie läßt sich eine solche Heuristik Schülern im Unterricht vermitteln?

 

3.2.1 Zwei Grundtypen von Alltagsanwendung

Der Begriff der "Alltagsanwendung psychologischen wissenschaftlichen Wissens" wird in der Regel intuitiv, ohne differenziertere Explikation verwendet. Einmal bedeutet "Anwenden" (wie oben bei Nolting) das Auffinden von Beispielen zu gegebenen theoretischen Schemata, ein anderes Mal bedeutet es die Erklärung von Alltagsproblemen mit Hilfe wissenschaftlich-theoretischer Konzepte, und wieder ein anderes Mal kann es den Aufbau von wissenschaftlich begründetem, problemlösendem Alltagshandeln bedeuten. Möglicherweise hat ja der Begriff der Anwendung ebensoviele Bedeutungen wie es Klassen psychologischer Kognitionen und psychologischen Handelns gibt.

 

Betrachtet man die verschiedenen Rahmenrichtlinien zum Psychologieunterricht der gymnasialen Oberstufe, so finden sich zum Thema der Anwendbarkeit psychologischen Wissens folgende Vorstellungen (vgl. dazu auch Kapitel 1):

 

Psychologisches Wissen soll

  • Offenheit und Sensibilität für psychologische Sachverhalte erzeugen (Baden-Württemberg)
  • die persönlichen Erlebnisse der Jugendlichen wissenschaftlich systematisieren helfen (Bayern)
  • die persönliche Qualifikation auf kognitiver, affektiver und pragmatischer Ebene fördern (Berlin)
  • Selbsterkenntnis und Verständnis sozialer Prozesse sowie Selbststeuerung und soziales Handeln ermöglichen (Brandenburg)
  • durch Mitgestaltung des Unterrichts die gewonnenen Kenntnisse anwenden helfen (Bremen)
  • reflektiertes Handeln ermöglichen und sich selbst und die Beziehungen zu anderen besser verstehen helfen (Hamburg)
  • das Verständnis für Mitmenschen und Lebenssituationen verbessern sowie reflektiertes und verantwortliches Handeln ermöglichen (Nordrhein-Westfalen)
  • Selbst- und Fremderkenntnis, das Verständnis sozialer Prozesse sowie Selbststeuerung und soziales Handeln fördern (Sachsen-Anhalt)

Sieht man von einigen allzu allgemeinen Formulierungen ab, so scheint also über die folgenden Aspekte Konsens herrschen:

Im Psychologieunterricht erworbenes psychologisches Wissen soll

  • Verständnis für sich selber, für die Mitmenschen und für soziale Prozesse fördern, und es soll
  • verantwortliches und reflektiertes soziales Handeln ermöglichen.

Damit schälen sich aus der allgemeinen Zielreflexion zwei Grundtypen der Alltagsanwendung psychologischen Wissens heraus:

  1. Erklärung psychischer Phänomene und Prozesse des Alltags mit Hilfe wissenschaftlicher Konstrukte ("Erklärungskompetenz")
  2. Entwicklung wissenschaftlich begründeter Handlungsschemata zur Bewältigung von Alltagssituationen ("Handlungskompetenz")
3.2.2 Anwendung Typ 1: "Erklärungskompetenz" - Erklärung psychischer Phänomene und Prozesse des Alltags mit Hilfe wissenschaftlicher Konstrukte

(1) "Erklärungen" verschiedener Schwierigkeitsgrade

 

Von Didaktikern wird häufig beklagt, daß Lernende im Kontext ihrer Ausbildung die wissenschaftlichen Erklärungsmittel zwar beherrschen, aber nicht fähig sind, diese in Alltagssituationen mit hinüberzunehmen (vgl. Abschnitt 5.2.2.1). Betrachten wir diese Erklärungssituationen näher, so stellt sich heraus, daß sie von sehr unterschiedlicher Struktur und Schwierigkeit sind:

 

Im Ausbildungskontext wird häufig die Aufgabe gestellt, mit Hilfe einer Theorie ein Phänomen zu erklären. Eine solche Erklärungsaufgabe liegt z.B. vor, wenn die Ergebnisse eines Experimentes theoretisch erklärt werden sollen, oder wenn im Unterricht oder in einer Klausur verlangt wird, ein Fallbeispiel in einem festgelegten theoretischen Kontext zu interpretieren. Auch "Beispiele" werden in ähnlicher Weise verwendet, wenn sie theoretisch verallgemeinerte Zusammenhänge "illustrieren".

 

Leider ist aber die Beherrschung dieses Typs von Transfer beiweitem keine Gewähr dafür, daß man dies auch in Alltagssituationen kann, denn dort bestehen weitaus kompliziertere Verhältnisse:

 

In Alltagssituationen ist nämlich häufig nur das erklärungsbedürftige Phänomen vorhanden, und jeder Hinweis auf ein Erklärungsmittel fehlt.

 

Geschieht dieser Suchprozeß unsystematisch, so kann es schnell zu Konfusionen kommen: "Sieht" z.B. ein Oberstufenschüler, der sich von einem Lehrer häufig ungerecht behandelt fühlt, bei der Reflexion dieses Sachverhalts spontan (1) gewisse "auslösende Situationen", in denen das Lehrerverhalten auftritt, gleichzeitig (2) beim Lehrer eine gewisse "Frustration" und Unzufriedenheit und (3) bei sich selber bestimmte "übertriebene irrationale Deutungen" dieses Lehrerverhaltens, so steht er endlich vor einem Konglomerat von Einzelaspekten, deren jeder auf eine andere Theorie mit anderer paradigmatischer Herkunft verweist (hier: behavioristisch, tiefenpsychologisch, kognitivistisch). Nun wird es ihm aufgrund der paradigmatischen Unverträglichkeit ("Inkommensurabilität") seiner Einzelbeobachtungen und Annahmen kaum noch gelingen, auch nur eine der möglichen Theorien zur Erklärung anzuwenden. (Folge ist möglicherweise die Einsicht, daß psychologische Theorien, wenn es darauf ankommt, "zu nichts nütze" sind, und endlich der Entschluß, sich in Zukunft doch lieber auf den "gesunden Menschenverstand" zu verlassen.) Entstanden ist das von Nolting so genannte "Phänomen der zwei Psychologien" (s.o.).

 

(2) Das Hempel-Oppenheim-Schema wissenschaftlicher Erklärung

 

Versuchen wir nun, dieses (Alltags-) Erklärungsproblem wissenschaftstheoretisch differenzierter zu erfassen:

 

Nach Hempel & Oppenheim (1953) bedeutet "wissenschaftliche Erklärung" die Beantwortung einer "Warum-Frage" mit wissenschaftlichen Mitteln. Voraussetzung für eine solche Erklärung ist die Wahrnehmung eines zu erklärenden Phänomens, des Explanandums. Zur Erklärung sind nun zwei Komponenten erforderlich:

a) Allgemeine wissenschaftliche Gesetzesaussagen G sowie

 

b) Konkrete Antecedensbedingungen A, die entweder dem Phänomen vorausgehen oder mit diesem gleichzeitig realisiert sind, auf die sich die Gesetzesaussagen beziehen.

 

Die Antecedensbedingungen bestehen aus einfachen Basis- oder Protokollsätzen über "Tatsachen", deren Gültigkeit (konsensuell) nicht angezweifelt wird. Beide Komponenten zusammen bilden das Explanans.

 

Beispiel:

Erklärungsbedürftiges Phänomen: Ein Mensch "speichelt" beim Erklingen griechischer Folkloremusik.

  • Antecedensbedingungen für das Klassische Konditionieren:

A1: Folkloremusik und Essen sind für den Menschen wahrnehmbare Reize.

A2: Speichelfluß ist eine beobachtbare Reaktion.

A3: Essen (unkonditionierter Reiz) löst Speichelfluß (unkonditionierte Reaktion) aus.

A4: Griechische Folklore (neutraler Reiz) löst zunächst keinen Speichelfuß (neutrale Reaktion) aus.

  • Gesetzesaussage:

Wenn der unkonditionierte Reiz (Essen) gleichzeitig mit oder unmittelbar nach dem neutralen Reiz (griechische Folkloremusik) auftritt, dann löst danach der neutrale Reiz (griechische Folkloremusik) allein den unkonditionierten Reiz (Speichelfluß) aus.

 

In Hempel-Oppenheims Terminologie lassen sich die beiden obigen Erklärungsprozesse somit wie folgt beschreiben:

 

- Bei den klassischen Erklärungen in Ausbildungssituationen sind gegeben: das Explanandum (das erklärungsbedürftige Phänomen) und die Gesetzesaussagen (Theorien oder theoretische Prinzipien); gesucht sind lediglich die Antecedensbedingungen, die aus dem Zusammenhang zu rekonstruieren sind.

 

- Bei der komplexeren Alltagserklärung ist aber meist allein das Explanandum bekannt, während nämlich das gesamte Explanans (Antecedensbedingungen und Gesetzesaussagen) gefunden werden müssen.

 

Der Erklärungsprozeß im zweiten Fall ist also dadurch erschwert, daß neben den Antecedensbedingungen auch noch nach den zugehörigen Gesetzesaussagen gesucht werden muß. Während im ersten Fall die (gegebene) Theorie ein Wahrnehmungsschema liefert, mit dem die Antecedensbedingungen rekonstruiert werden können, hat der um Erklärung bemühte "Anwender" im zweiten Fall kein solches Hilfsmittel zur Verfügung. Der Suchprozeß geht dann gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen: innerhalb des eigenen Theoriewissens muß nach geeigneten Erklärungsmitteln gesucht werden, während gleichzeitig innerhalb des Phänomens die dazu "passenden" situativen Gegebenheiten (Antecedensbedingungen) rekonstruiert werden müssen, die durch eben diese Theorie verknüpft werden sollen. Ergebnis ist in günstigen Fällen das häufig beobachtete "Springen" von einem Detail zum andern und von einer Theorie zur nächsten, ohne daß man zu einer konsistenten Lösung (Erklärung) kommt. Im ungünstigen Fall gibt der "Anwender" den Versuch einer wissenschaftlichen Erklärung auf und wendet sich wieder seiner "Alltagspsychologie" zu.

 

(3) Ein Modell "Paradigmenorientierter Alltagsanwendung"

 

Aus paradigmenorientierter Sicht läßt sich nun der Vorgang der Alltagsanwendung psychologischen Wissens stärker systematisieren und dadurch vereinfachen:

 

Die Basiselemente eines Paradigmas bilden nämlich recht übersichtliche und kompakte Mengen von allgemeinen Antecedensbedingungen, die wesentlich einfacher zu "entdecken" sind als der vollständige Satz der Antecedensbedingungen eines theoretischen Spezialgesetzes, das seinerseits ebenfalls noch unbekannt ist. Die paradigmatischen Basiseinheiten legen also einen klar definierten Bereich "relevanter" Bedingungen fest und bilden dadurch eine Vorstrukturierung für die nachfolgende Suche nach einer konkreten Theorie.

 

Damit kommt man zu folgendem Verfahren einer "paradigmenorientierten Erklärung": Man beginnt angesichts eines erklärungsbedürftigen Phänomens damit, daß man die paradigmatischen Antecedensbedingungen AP des Paradigmas, also seine Basiseinheiten identifiziert. (Dies setzt eine Entscheidung für ein Paradigma voraus; ein Problem, dessen Bedingungen weiter unten erörtert werden.)

 

Ist dies gelungen, so hat man eine bestimmte "Welt" von Explanantien definiert, innerhalb derer nun nach speziellen Theorien gesucht werden kann. Die paradigmatischen Antecedensbedingungen bilden jetzt eine Vorstruktur für die Suche nach theoriespezifischen Antecedensbedingungen AT und damit nach den notwendigen Gesetzesaussagen. Die theoriespezifischen Antecedensbedingungen sind einerseits Konkretisierungen der Basiseinheiten, andererseits gehen sie durch Zusatzannahmen darüber hinaus.

 

Es kann nun angenommen werden, daß eine solche Vorstrukturierung den Suchprozeß wesentlich erleichtert, denn einmal schränkt sie den Bereich der zu berücksichtigen Teil-Phänomene und -Prozesse ein, anderseits bildet sie auf einer höheren Ebene ein Suchmuster für Theorien.

 

Der ("ungerecht behandelte") Oberstufenschüler im obigen Beispiel müßte sich also zunächst festlegen, ob er eine tiefenpsychologische, eine behavioristische oder eine kognitivistische Deutung versuchen möchte. Hat er sich z.B. für ein kognitivistisches Vorgehen entschieden, so wäre sein "Suchraum" deutlich kleiner geworden und er bräuchte sich lediglich mit kognitivistischen Basiselementen wie "Kognitionen" und "Handlungsplänen" zu beschäftigen, paradigmatischen Antecedensbedingungen des Kognitivismus: Welche Sachverhalte interpretiert der Lehrer wie? Welche Schlüsse zieht der Schüler selber woraus? Welche Handlungsziele haben die Beteiligten? Diese Vorstruktur "kanalisiert" nun die Suche nach einer konkreten Theorie: Ist z.B. das ("ungerechte") Verhalten des Lehrers sinnvoll interpretierbar als Versuch, eine "kognitive Dissonanz" zu beseitigen (z.B. weil dieser von einem Kollegen eine glaubwürdige Vorinformation über die Leistungen unseres Schülers bekommen hat), oder kommt es zustande wegen unterschiedlicher "Attributionen" bei Lehrer und Schüler (Schüler attribuiert seine Leistung internal, Lehrer external)?

 

Damit kann eine paradigmenorientierte Erklärung als vierstufiger Prozeß aufgefaßt werden:

 

 

1. Stufe: Festlegung auf eine wissenschaftliches Paradigma - Entscheidung für eine paradigmatische Perspektive

Um psychische Phänomene und Prozesse des Alltags erklären zu können, müssen diese also zunächst nach wissenschaftlich-psychologischen Gesichtspunkten strukturiert werden. Nach Überzeugung der Paradigmenorientierten Didaktik sind aber die dabei verwendeten wahrnehmungs- und erkenntnisstrukturierenden Elemente immer paradigmatischen Ursprungs; d.h. jede wissenschaftliche Wahrnehmung ist eine paradigmatisch-orientierte Wahrnehmung und bedient sich paradigmatischer Apperzeptionsschemata. Eine "unvoreingenommene" wissenschaftliche Analyse eines psychischen Sachverhalts ist, wie mehrfach betont, gar nicht möglich.

 

So ist schon während der ersten analytischen Strukturierungsphase einer Alltagssituation die bewußte oder unbewußte, explizite oder implizite Entscheidung fällig, aus welcher paradigmatischen Perspektive diese erklärt werden soll.

 

Hintergründe für eine solche Entscheidung können z.B. sein:

 

  • pragmatische Gesichtspunkte oder wissenschaftstheoretische Überzeugungen (z. B.: Ist der gegebene Kontext mit den vorhandenen situationsspezifischen Informationen leichter durch typisch behavioristische oder eher durch tiefenpsychologisch orientierte Deutungen zu erklären? Hält man empirisch-experimentell begründete Theorien für glaubwürdiger und angemessener oder verstehend-intuitiv begründete?)
  • mehr oder weniger rationale Vorlieben und Abneigungen (z.B. für "rationale" oder gegen "metaphysische" Konstrukte, für "psychotechnisch" orientierte Theorien oder gegen das "Tiefengeschwätz")
  • das eigene "Menschenbild" (Hält man etwa "die Menschen" - und sich selbst - für rational beeinflußbar, oder hält man sie - und sich selbst - für "triebbedingt"; kann man akzeptieren, Menschen unter "Reizkontrolle" ihrer Umgebung zu sehen, oder legt man besonderen Wert auf "Autonomie" und "Selbstverantwortung"?)
  • die eigenen Erfahrungen mit dem Erklärungswert einzelner Paradigmen und der Schwierigkeitsgrad ihrer Anwendung
  • letztlich natürlich auch: der Kenntnisstand des Wählenden und seine wissenschaftliche Sozialisation.
2. Stufe: Auffinden allgemeiner paradigmatischer Antecedensbedingungen - Rekonstruktion der paradigmatischen Basiselemente in der Alltagssituation

Ist die Entscheidung getroffen, so bedeutet die Anwendung eines paradigmatischen Apperzeptionsschemas in der Alltagssituation zunächst eine Identifizierung der paradigmatischen "Gegenstände" und ihrer grundlegenden, vom Paradigma postulierten Zusammenhänge. Die Alltagssituation ist also durch die "Basiseinheiten" und die "Fundamentalgesetze" des paradigmatischen Subsumptionsmodells vorzustrukturieren.

 

Beispiele:

  • Unter Maßgabe des behavioristischen Paradigmas würde man damit beginnen, das (offene) "Verhalten" zu betrachten und nach den "Reizen" zu suchen, unter deren Kontrolle es steht, die es also "auslösen". Man wird prinzipiell annehmen, daß das aktuelle Verhalten aufgrund bestimmter Reizkonstellationen in vorangegangenen Situationen entstanden ist (Fundamentalgesetz).
  • Unter kognitivistischer Perspektive würde die Aufmerksamkeit auf Prozesse der Informationsverarbeitung im weitesten Sinne gelenkt: Welche Kognitionen, welche individuellen "Einstellungen" oder "Annahmen" liegen dem zu erklärenden Verhalten zugrunde? Hier würde man mit der zentralen Annahme fortfahren, daß das aktuelle Verhalten zielgerichtet gesteuert ist, und daß daran im wesentlichen kognitive (nicht unbedingt "bewußte") Verarbeitungsprozesse beteiligte sind.
  • Eine tiefenpsychologische Vorstrukturierung wird vorgenommen, indem man nach der Funktionsweise des "Psychischen Systems", den darin ablaufenden "unbewußten Prozessen" sowie nach möglichen "verdrängten Konflikten" fragt. Das aktuelle Erleben und Verhalten wird einer personentypischen unbewußten Dynamik zugeordnet, die sich in der Vergangenheit entwickelt hat (Fundamentalgesetz).
 
3. Stufe: Suche nach speziellen theoretischen Antecedensbedingungen - Aktualisierung konkreter Theorien

Nun ist die Problemsituation so rekonstruiert, daß spezifische, zum Paradigma gehörige Theorien aktualisiert werden können, die die gewünschten konkreten Erklärungen erlauben. Die Suche nach solchen Theorien fällt aber nun wesentlich leichter, denn die paradigmatischen Basiselemente dienen auf einer logisch höheren Ebene gleichzeitig als Suchschema: Welche Theorien enthalten diese Basiselemente und können spezielle Aussagen zur gegebenen Problemsituation machen? Die im Rahmen eines paradigmenorientierten Lehrgangs der Psychologie verinnerlichte paradigmatische Zuordnung psychologischer Forschungsprogramme leistet hier ein übriges.

 

Beispiele:

  • Hat man aus behavioristischer Sicht, Verhalten "entdeckt", so kann man nun fragen: Kann das beobachtete Verhalten eher als Endpunkt eines konditionierten (Pawlow´schen) "Reflexes" angesehen werden, oder ist es eher ein (Skinner´sches) "operant", das auf einen "Verstärker" gerichtet ist? Sind die identifizierten Reize eher als "Verstärker" interpretierbar oder als "unkonditionierte Reize"?
  • Vermutet man unter tiefenpsychologischer Perspektive einen unbewußten Konflikt, so geht es nun darum: Bezieht sich der angenommene Konflikt hier (in Anlehnung an Freud) auf biologische Triebe, oder liegt eher ein ("Adler´scher") Konflikt mit sozialen Bedürfnissen vor?

 

4. Stufe: Durchführung der Erklärung

Nachdem nun durch Vorstrukturierung eine möglicherweise geeignete allgemeine Gesetzesaussage gefunden ist, besteht die nächste Aufgabe des Anwendungsprozesses darin, die Antecedensbedingungen zu vervollständigen bzw. zu rekonstruieren. Dies ist notwendig, weil sich eine Theorie erst unter Vorlage aller zugehörigen Antecedensbedingungen anwenden läßt. Damit entstehen hier weitere Suchaufgaben, z.B.: Welche Aspekte des zu erklärenden psychischen Phänomens sind in welcher Weise als Antecedensbedingung deutbar, oder: welche plausiblen Annahmen können fehlende Bedingungen "erschließen"? Auch hier kann eine Erklärung noch scheitern, wenn wesentliche Antecedensbedingungen nicht auffindbar sind, oder wenn es nicht möglich oder erwünscht ist, die Lücken durch Plausibilitätsschlüsse ("Zusatzannahmen") zu beseitigen.

 

(4) Zusammenfassung: Die paradigmenorientierte Erklärung psychischer Phänomene und Prozesse

 

Möchte man in einer Alltagssituation wissenschaftliches psychologisches Wissen anwenden, so kann man zunächst eine Vorstrukturierung mit Hilfe eines elementaren paradigmatischen Wahrnehmungs- und Erklärungsmodells vornehmen. Eine solche Struktur enthält die allgemeinen Antecedensbedingungen des Paradigmas.

 

Somit umfaßt eine Paradigmen-geleitete Erklärung von psychischen Phänomenen des Alltags mindestens folgende Teilhandlungen:

 

Die vier Schritte zur paradigmenorientierten Erklärung einer Alltagssituation:

1. Entscheidung für ein Paradigma

2. Paradigmatische Vorstrukturierung: Wahrnehmen und Erkennen der paradigmatischen Basiseinheiten (zentrale psychische "Gegenstände" und elementare Relationen) in der konkreten Situation, (Re-)Konstruktion der paradigmatischen "Welt", Identifikation der paradigmatischen Antecedensbedingungen

3. Theoriesuche: Auffinden von anwendbaren psychologischen Theorien innerhalb dieses Paradigmas; Konkretisierung und Erweiterung auf die theoretischen Antecedensbedingungen

4. Erklärung: Konkretisierung der theoretischen Aussagen in Bezug auf die problematische Alltagssituation; theorieorientierte Rekonstruktion von Zusammenhängen der Alltagssituation: "Erklärung" im Sinne von Hempel-Oppenheim

 
3.2.3 Anwendung Typ 2: "Handlungskompetenz" - Entwicklung wissenschaftlich begründeter Handlungsschemata zur Bewältigung von Alltagssituationen

Der Ausdruck "reflektiertes Handeln" bezeichnet die Verbindung eines wissenschaftlichen Reflexionsprozesses mit einer sozialen Handlung. Dabei kann der Reflexionsprozeß dem Handeln einmal vorausgehen oder es begleiten, insgesamt also als "Planung" verstanden werden. Er kann sich aber auch, als "Handlungsanalyse", retrospektiv mit abgelaufenen Handlungen befassen (eventuell mit der Absicht der Planung einer neuen Handlung).

 

(1) Paradigmenorientierte Handlungsplanung

 

(a) Hintergrundmotive bei der Wahl der paradigmatischen Interpretation

 

Die Entscheidung für eine paradigmatische Interpretation, aus der dann Handlungskonsequenzen gezogen werden können, unterliegt zunächst ganz ähnlichen Entscheidungskriterien wie in einer Erklärungssituation. Sie wird aber auf einer subtileren Ebene von der Tatsache mitbestimmt, daß die Auswahl der paradigmatischen Perspektive konkrete Handlungen nach sich ziehen wird:

 

Mit etwas Erfahrung "weiß" (oder ahnt) der Anwender, welche Handlungstypen z.B. bei behavioristischer Interpretation auf ihn zukommen, und ob er diese beherrscht. Während er sich nämlich hier auf verhaltensändernde Reizarrangements wie Löschung, Lohn oder Strafe einzustellen hat, die spontanes situatives Handeln verlangen, wird er bei kognitivistischer Vorstrukturierung antizipieren, daß eine Veränderung der Interpretationsstrategie nötig sein wird, die er z.B. nur durch ein reflektierendes Gespräch erreichen kann. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird nun jemand eine Situation bevorzugt so strukturieren, daß er die daraus sich ergebenden Handlungen auch "kann". Das heißt z.B., daß er die dafür nötigen Techniken beherrscht und sich zutraut (etwa die verbalen Fähigkeiten zu haben, um "Einstellungen" zu verändern - oder die Spontaneität und Emotionalität, um überzeugend zu "loben").

 

Die subtilste Beeinflussung dieser Auswahlentscheidung liegt aber wohl in der Tatsache, daß unterschiedliche Interpretationen von Alltagssituationen auch unterschiedliche Formen der Involvierung des Interpreten bedeuten können. So erzeugen tiefenpsychologische Deutungen häufig im Alltag eine gewisse Abstinenz vom unmittelbaren Handeln, weil es natürlich bei einer "chronifizierten unbewußten Dynamik" wenig Aussicht auf schnelle Veränderung gibt. Dagegen "verwickeln" ganzheitlich-systemische Deutungen den Interpreten oft unmittelbar in die Situation und verlangen ihm sowohl Selbstreflexion als auch alternatives Handeln ab: Betrachtet man z.B. die Aggression oder Eifersucht eines Mitmenschen (ganzheitlich-systemisch) als Endpunkt eines Aufschaukelungsprozesses, den man selber mitinszeniert hat, so findet man sich selber als unmittelbar Beteiligten wieder. Die alternative Interpretation dagegen, dieser Mitmensch "übertrage" hier unbewußt Erlebnisse und Erfahrungen seiner Kindheit, beschert dem Deuter entscheidend mehr Distanz, aber auch deutlich weniger Handlungsmöglichkeiten (was ihm beides möglicherweise ganz lieb ist!).

 

Hier wird deutlich, daß in Alltagssituationen die Wahl einer paradigmatischen Interpretation sowohl eine andere Rollenverteilung als auch eine andere Struktur von Verantwortlichkeit in dieser Situation definiert:

 

Beispiel: Ein "aggressive Schüler"

 

  • ist für einen Lehrer aus tiefenpsychologischer Perspektive u.U. ein "hilfloses" Opfer seiner familiären Bedingungen. Der Lehrer definiert sich selbst so ebenfalls als weitgehend "machtlos", und er kann höchstens therapeutische Hilfe empfehlen. Etwas ändern müssen die Eltern!
  • Dagegen sind aus behavioristischer Sicht unbedingt die verstärkenden Elemente auch und gerade in der schulischen Situation ausfindig zu machen; dem Lehrer selber obliegt nun plötzlich die anstrengende Aufgabe, sowohl sein eigenes Verhalten als auch das der anderen Schüler zu "kontrollieren" und zu "manipulieren"; der Schüler bleibt allerdings auch hier, da "reizkontrolliert", in seiner Verantwortung weitgehend unbehelligt.
  • Dies ändert sich erst unter kognitivistischen Kernannahmen: Wird das Schülerverhalten nämlich als "autonom kontrolliert" und "zielgerichtet" angesehen, so muß von ihm die Veränderung seiner internen Steuerungsprozesse verlangt werden, und der Lehrer könnte versuchen, dies zu bewirken.
  • Unter ganzheitlich-systemischer Perspektive endlich würde der Lehrer gezwungen sein, seine eigenen Anteile an bestimmten "positiven Rückkoppelungen" ins Auge zu fassen, und er müßte sich fragen, wieweit er selber Anteil hat an einer Aufschaukelung der Situation, die dem Schüler kaum mehr Handlungsalternativen läßt.

 

Es kann nun vermutet werden, daß unsere unterschiedlichen Motive und Interessen ebenso wie unsere persönlichkeitsspezifischen Erlebens- und Verhaltensformen nicht ohne Einfluß darauf bleiben, aus welcher paradigmatischen Perspektive wir problematische Alltagssituationen bevorzugt interpretieren. Eine Interpretation mit Konsequenzen, die unseren Interessen oder unseren persönlichen automatisierten Verhaltensstrategien zuwiderlaufen, scheint doch weniger wahrscheinlich als eine, die all dem entspricht.

 

Diese wenigen Beispiele zeigen, welch schier unübersehbares Feld von persönlichen Motiven und Hintergründen für die Paradigmenwahl sich hier auftut. So interessant dies sein mag, wir werden es an dieser Stelle nicht weiter erörtern können.

 

(b) Die Ableitung konkreter Handlungen

 

Die obigen vier Schritte einer "Erklärung" setzen sich nun fort, indem daraus konkrete Handlungen abgeleitet werden. Anhaltspunkte hierzu bieten die ebenfalls paradigmentypischen "Psychotechniken" der Angewandten Psychologie.

 

Um es noch einmal zu wiederholen: "Anwendung" bedeutet hier nicht die (mehr oder weniger) korrekte Durchführung psychologischer Interventionen wie therapeutischer Techniken oder pädagogisch-psychologischer Verfahren, sondern diese bilden lediglich eine wissenschaftlich begründete Folie für die Ausbildung von Handlungsschemata des Alltags: Statt der korrekten Technik einer "Konfrontationstherapie" hat man gelernt, daß man sich den eigenen Alltagsängsten "aussetzen" muß, wenn man diese reduzieren will - oder man hat gelernt, nach eigenen (Fehl-)Attributionen zu suchen, wenn man Problemen in Leistungssituationen begegnen will.

 

Auch bei der Konstruktion konkreter Handlungsschemata ist also die paradigmenorientierte Vorstrukturierung eine wichtige Hilfe: Man weiß nun, unter welchen "Psychotechniken" man sich umsehen muß, um eine Folie für das konkrete Handeln zu gewinnen.

 

(2) Paradigmenorientierte Handlungsanalyse und Planung von Alternativen

 

Alltagsprobleme sind oft besonders hartnäckig, wenn man in immer denselben Situationen mit immer denselben Lösungsversuchen scheitert. Häufig ist nämlich die stereotype, erfolglose Verwendung immer derselben Strategie auf die Unfähigkeit zurückzuführen, einen Problemzusammenhang einmal prinzipiell anders, also "unter einem anderen Paradigma" wahrzunehmen.

 

Möchte man also eine grundlegend neue Alternativlösung, so kommt es zunächst darauf an, die paradigmatischen Hintergrundannahmen der erfolglosen Problemlösungsversuche zu analysieren. Es wird nun z.B. gefragt, von welchen (paradigmatischen) Annahmen jemand ausgeht, der versucht, aggressives Verhalten durch Überzeugung und "gutes Zureden" zu verändern, oder welche (paradigmatischen) Annahmen dem Versuch einer Eindämmung von Aggressionen durch Lohn und Strafe zugrunde liegen.

 

Das Erschließen von Hintergrundannahmen bei eigenen Handlungen oder bei Handlungen anderer ist sicherlich die schwierigere Form der "Anwendung", da es sich nicht um eine paradigmengeleitete Identifikation von Phänomenen handelt, sondern um die Rekonstruktion häufig unbewußter und automatisierter kognitiver Strukturen des Handelnden. Ist jemand dazu aber in Alltagssituationen in der Lage, so eröffnen sich ihm grundlegend neue Möglichkeiten der Entwicklung von Handlungsalternativen. Nach einem bewußten "Paradigmenwechsel" bei der Wahrnehmung der problematischen Alltagssituation lassen sich so, orientiert am alternativen Paradigma, neue Lösungsversuche ableiten.

 

Ein Lehrer z.B., der bemerkt, daß trotz wiederholten Bestrafens eines Schülerfehlverhaltens dieses Verhalten dennoch häufiger wird, könnte (nach "Paradigmenwechsel") auf die Idee kommen, daß der Schüler die (vermeintliche) Strafe "anders interpretiert". Und diese neue Annahme "vermittelnder kognitiver Prozesse" (die einen Wechsel ins kognitivistische Paradigma bedeutet) könnte ihn zu alternativen Handlungen bringen.

 

(3) Zusammenfassung: Die paradigmenorientierte Entwicklung von Handlungsalternativen

 

Insgesamt sind also für die "Entwicklung grundlegender Handlungsalternativen in alltäglichen Problemsituationen" mindestens folgende Teilprozesse erkennbar:

 

Drei Schritte einer paradigmenorientierten Entwicklung grundlegender Handlungsalternativen:

 

  1. Rekonstruktion der paradigmatischen Hintergrundannahmen von erfolglosen Lösungsversuchen (Leitfragen: Welche Basiseinheiten wurden hier berücksichtigt, welche Zusammenhänge zwischen Ihnen wurden unterstellt, welche psychologischen Gesetzmäßigkeiten wurden als bestehend angenommen?)
  2. Entscheidung für einen "Paradigmenwechsel" bei der Handlungskonstruktion
  3. Aufbau neuer Handlungsstrukturen auf dem Hintergrund des anderen Paradigmas (wobei nun nacheinander die Elemente 1 bis 4 der obigen Folge "Erklärung" zu durchlaufen sind)
3.3 Die Einübung "paradigmenorientierter Anwendung" im Unterricht

Die im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Operationen, die bei Anwendungen im Alltag notwendig werden, lassen sich im Unterricht auch systematisch einüben, und zwar mit abgestuftem und kontrolliertem Schwierigkeitsgrad. Dabei kann der Lehrer sowohl die Komplexität der Beispiele "dosieren" wie auch die Größe und die Zahl der von den Schülern selbständig auszuführenden Schritte. Übungssituationen können "in Zeitlupe" durchgegangen werden, und es ist möglich, (metakognitiv) über Strategien bei der Anwendung zu sprechen.

 

Sowohl die paradigmenorientierte wissenschaftliche Analyse und Erklärung von Alltagssituationen als auch die Entwicklung und Einübung zugehöriger Handlungsmuster sind wichtige Bausteine zur Erhöhung der sozialen Handlungskompetenz.

 

3.3.1 Übungen zur Analyse und Erklärung von Alltagssituationen: "Erklärungskompetenz"

(1) Analyse eines Alltagsphänomens mit Hilfe eines vorgegebenen Spezialgesetzes

 

Die möglicherweise einfachste Form der Anwendung findet, wie oben beschrieben, statt, wenn der Lehrer ein Beispiel benennt, auf das dann die gelernten theoretischen Konstrukte zu übertragen sind. Solche Anwendungen relativ niedrigen Schwierigkeitsgrades sind immer als erste Schritte geeignet, unmittelbar nach der Einführung eines neuen Konstrukts.

 

Aufgabenbeispiele:

 

  • Während ihres Studiums müssen angehende Mediziner an einem pathologischen Praktikum teilnehmen und beim Sezieren von Leichen zusehen bzw. assistieren. Begründen Sie mit Hilfe der Theorie des Klassischen Konditionierens, welche Wirkung diese Pflichtveranstaltung hat.
  • Wenn eine Person beim Gespräch über ein Thema negativ reagiert, so wird man dieses Thema in Zukunft seltener ansprechen. Analysieren Sie diesen Lernprozeß möglichst vollständig mit Hilfe der Theorie des Operanten Konditionierens.
  • Deuten Sie die Verhaltensauffälligkeiten des "kleinen Sascha" (vgl. das Fallbeispiel, S. 77) aus tiefenpsychologischer Sicht.
  • Erklären Sie die Wirkung der Bandenwerbung in Stadien mit Hilfe der Hypothesentheorie der Wahrnehmung. Welche Vorteile versprechen sich z.B. die mit ihrem Firmenlogo die werbenden Firmen?

 

(2) Analyse eines Alltagsphänomens mit Hilfe eines vorgegebenen paradigmatischen Erklärungsschemas

 

Ebenso wie die theoretischen können natürlich auch die paradigmatischen Antecedensbedingungen bei verschiedenen Alltagsphänomenen aufgesucht werden. Das setzt allerdings voraus, daß diese vorher explizit im Unterricht erarbeitet wurden.

 

Aufgabenbeispiele:

 

  • Herr K behauptet von sich, "absolut friedlich" zu sein und auch in seinem Inneren überhaupt keine aggressiven Regungen zu kennen. Erläutern Sie an diesem Phänomen die Grundprinzipien der Tiefenpsychologie.
  • Eine Gruppe mittelmäßiger Fußballspieler kann eine "Spitzenmannschaft" sein.
  • Erläutern Sie an diesem Phänomen die Grundprinzipien der Ganzheitspsychologie. (Emergenz, Selbstorganisation, Selbststabilisierung)
  • Frau B kann seit ihrer sehr schmerzhaften Operation "kein Krankenhaus mehr von innen sehen". Wenn sie dort hineinkommt, bekommt sie schon Schweißausbrüche. Erklären Sie hieran die Grundprinzipien des Behaviorismus.
  • Häufig verwendet man auch anderen Erwachsenen gegenüber die Ammensprache. Erläutern Sie an diesem Phänomen die Grundprinzipien der Psychobiologie.
  • Man unterhält sich in der Pause mit einer Bekannten, und aus dem Stimmengewirr des Pausenhofs erkennt man plötzlich seinen eigenen Namen. Erläutern Sie an diesem Phänomen die Grundprinzipien des Kognitivismus.

 

(3) Suche nach Erklärungsmitteln: Entscheidung für ein Paradigma und Erklärung offener Alltagssituationen

Immer realistischer werden Erklärungs- und Interpretationsstrategien, wenn die Explanantien nicht mehr vorgegeben werden, sondern in mehr oder weniger großen und Selbständigkeit erfordernden Schritten gesucht werden müssen:

 

Aufgabenbeispiele:

  • Erklärung mit Prozeßhilfe

 

Situation: Lehrer A sieht, wie während des Unterrichts in der letzten Reihe ein Schüler den anderen boxt. Er wird furchtbar wütend und beschimpft die Schüler, weil sie nicht aufpassen. Dies, so sagt er, werde Ihnen in der Klassenarbeit "noch leid tun".

 

Aufgabe:

 

a) Wie kann man diese Situation aus unterschiedlicher paradigmatischer Perspektive interpretieren? Geben Sie jeweils die zu betrachtenden "Gegenstände" und die "zentralen Zusammenhänge an". Rekonstruieren Sie die notwendigen Aspekte.

 

b) Suchen Sie nun, soweit möglich, in jedem Paradigma nach einer speziellen Theorie, die die Situation erklärt. Führen Sie die Erklärung durch.

 

  • Erklärung ohne Prozeßhilfe

 

Situation: Am Tag der Zeugnisausgabe geht ein 13-jähriger Schüler mit seinem schlechten Zeugnis nicht nach Hause. Er streift durch die Stadt und "vagabundiert" dort solange herum, bis ihn nach Mitternacht die Polizei aufgreift.

 

Aufgabe: Versuchen Sie unterschiedliche theoretische Erklärungen für dieses Phänomen.

 

  • Paradigmatische Metabetrachtungen

 

Situation: Die Mitschüler beobachten, daß Schüler E in den meisten Gruppen, in denen er Mitglied ist, stets eine untergeordnete Position einnimmt.

 

Aufgabe: Diskutieren Sie

 

a) Unter welcher paradigmatischen Perspektive ist das Beispiel am einfachsten zu erklären?

 

b) Welche paradigmatische Perspektive ist am besten geeignet, wenn Lehrer und Mitschüler dem Schüler E helfen wollen? Welche sind eher ungeeignet?

 

(4) Analyse von "paradigmatischen Hintergrundannahmen"

 

Um bei wiederholt mißlungenen Lösungen von Alltagsproblemen grundsätzliche Alternativen entwickeln zu können, sind zunächst die vergeblichen Lösungsversuche paradigmatisch zu klassifizieren. Paradigmatische Basiselemente und Fundamentalgesetze sind in diesem Fall also nicht auf die psychischen Alltagsphänomene selber anzuwenden, sondern auf die Hintergrundannahmen der beteiligten Interpretations- und Handlungsmuster.

 

Nun lassen sich aber, wie oben erörtert, Hintergrundannahmen selten beobachten. Sie müssen in den allermeisten Fällen aus Handlungen oder Handlungsergebnissen erschlossen werden. Entsprechend ist dieser Vorgang mit großen Unsicherheiten behaftet und ohne Übung wohl kaum zu bewältigen.

 

Aufgabenbeispiele:

 

  • Identifikation von impliziten Wahrnehmungs- und Erklärungschemata:

 

- Welche Fakten und Zusammenhänge hält der Autor des Fallbeispiels für wesentlich? Auf welche paradigmatischen Hintergrundannahmen läßt dies schließen? (Bezug hier z.B. das Fallbeispiel des Herrn F., S. 82)

 

- "Kinder, die in der Schule durch aggressives Verhalten auffallen, haben meist eine freudlose Vergangenheit hinter sich. Sie lassen nun lediglich ihre angestaute Wut an ihren Lehrern und Mitschülern aus. Ohne an die Ursachen, nämlich das häusliche Milieu, heranzugehen, ist Ihnen nicht zu helfen."

 

Aufgabe: Welche paradigmatische Perspektive wird in dieser Argumentation eingenommen? Identifizieren Sie die einzelnen Annahmen, die hinter der Argumentation stecken.

 

  • Paradigmatische Zuordnung von Alltagstheorien:

Als Beobachtungsaufgabe über eine Woche: Beobachten Sie ihre Mitmenschen und notieren Sie alle Begründungen oder Erklärungen von Verhalten, in denen behavioristische Annahmen gemacht werden.

 

  • Identifikation paradigmatischer Hintergrundannahmen von Handlungsmustern:

 

- Welche (paradigmatischen) Annahmen machen Dachdeckermeister, die ihre Lehrlinge trotz starker Höhenangst immer wieder aufs Dach zurückschicken?

 

- Situation: In der Ratgeberecke einer Frauenzeitschrift beklagt sich eine Leserin über die dauernden Einmischungen ihrer Schwiegermutter, die in der Nachbarschaft wohnt. Die ratgebende Psychologin antwortet:

 

"Es hilft nichts, wenn man der Schwiegermutter immer wieder untersagt, sich einzumischen. Sie wird es trotzdem tun, denn sie ist ja überzeugt davon, daß sie der Schwiegertochter mit ihrer Kritik hilft. Die Erfahrung zeigt, daß derartige Einmischungen am ehesten aufhören, wenn man sie einfach ignoriert. Das kostet natürlich Nerven - aber längst nicht soviel wie ständige Auseinandersetzungen."

 

Aufgabe: Welche theoretischen Hintergrundannahmen macht die Psychologin hier bei ihrem "Rat"?

 

- Als Beobachtungsaufgabe über eine Woche: Beobachten Sie ihre Mitmenschen und notieren Sie alle Handlungen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von behavioristischen Hintergrundannahmen ausgehen.

 

(5) Perspektiven- und Paradigmenwechsel

 

Der zweite Schritt auf dem Weg zu einer alternativen Erklärung oder Handlung ist der "Paradigmenwechsel". Hier wird geübt, einzelne Phänomene aus unterschiedlicher paradigmatischer Perspektive zu betrachten oder Handlungsstrategien unterschiedlicher paradigmatischer Zugehörigkeit zu entwerfen. Beispiele dieses Typs eignen sich natürlich besonders zur Realisierung der Forderung nach Multiplen Perspektiven.

 

Beispiele:

  • Alternative Interpretationen und Handlungskonsequenzen:

 

- Wie würde ein Tiefenpsychologe das Vorgehen des Dachdeckermeisters (s.o.) einschätzen? Argumentieren Sie ausführlich!

 

- Aufgabe (Bezug: das Fallbeispiel "Sascha", vgl S. 77):

 

a) Analysieren Sie das Fallbeispiel aus behavioristischer und aus tiefenpsychologischer Sicht. Machen Sie jeweils Lösungsvorschläge.

 

b) Welche Maßnahmen sind aus der einen, welche aus der anderen Perspektive völlig ungeeignet?

 

  • Multiple paradigmatische Perspektiven:

 

- Markieren Sie (z.B. im Fallbeispiel Sascha) alle Textstellen, die für Tiefenpsychologen "interessant" sind, und tun Sie dasselbe aus behavioristischer Perspektive. Versuchen Sie nun eine vergleichende Charakterisierung der behavioristischen und der tiefenpsychologischen "Fakten".

 

- Nennen Sie eine tiefenpsychologische, eine ganzheitspsychologische, eine behavioristische, eine psychobiologische und eine kognitivistische Erklärung für aggressives Gruppenverhalten ("Vandalismus").

 

  • Kontrastierung mit "naiven" Alltagstheorien:

Nehmen Sie aus unterschiedlichen paradigmatischen Perspektiven Stellung zu folgenden häufig zu hörenden Alltagsüberzeugungen:

 

- "Man sollte ängstlichen kleinen Kindern möglichst ihre Ängste ersparen."

 

- "Wenn man sich genügend Zeit für ein Kind nimmt, wird auch eine gute Bindung entstehen."

 

- "Ich weiß doch wohl, was ich weiß!"

 

- "Ich habe vor nichts Angst!"

 
3.3.2 Übungen zur paradigmenorientierten Handlungsplanung und -durchführung bei problematischen Alltagsphänomenen: "Handlungskompetenz"

Im Psychologieunterricht ist es nicht nur möglich, exemplarische Alltagssituationen zu analysieren und zu erklären, es können auch konkrete Handlungselemente geplant und (z.B. simulativ) eingeübt werden. Sie leiten sich stets von bestimmten wissenschaftlich-psychologischen Techniken ab, und Sie verwenden denselben paradigmatischen und theoretischen Hintergrund. Dieser sollte im Unterricht in jedem Fall explizit gemacht werden, so daß auch hier der paradigmatische Kontext erhalten bleibt.

 

Die folgenden Beispiele sind angelehnt an klassische psychologische Techniken. Sie sollen demonstrieren wie diese als "Folie" dienen können, um konkretes problemlösendes Alltagshandeln zu entwickeln.

 

(1) Beispiele für tiefenpsychologische Problemlösungen

 

Umgang mit Übertragungsphänomenen in Gruppen:

 

Stellen Sie sich vor, Sie sind Leiter einer Jugendgruppe von 14- bis 16-jährigen Jugendlichen. Sie bitten freundlich einen Jugendlichen z.B.

 

- seine Sachen aufzuräumen,

 

- die anderen nicht zu behindern,

 

- Ihnen einen Gefallen zu tun.

 

Der Angesprochene reagiert aber spontan und völlig unangemessen:

 

- Er schreit Sie an: "Ich bin doch nicht Dein Sklave!"

 

- Er beginnt, in weinerlichem Tonfall zu klagen, warum immer er alles machen müsse und nicht die anderen.

 

- Er sagt es zu, aber dann macht er sich heimlich "aus dem Staub".

 

Aufgabe:

a) Welche Situationen und Beziehungen in der Vergangenheit dieses Jugendlichen werden hier möglicherweise aktualisiert und bestimmen sein Verhalten?

 

b) Üben Sie im Rollenspiel verschiedene alternative (verbale und nicht-verbale) Reaktionen.

 

c) Welche langfristigen Erfahrungen dieses Jugendlichen wären geeignet, solche Reaktionen in Zukunft zu reduzieren? Wie könnten Gruppenleiter dazu beitragen, daß er diese Erfahrungen machen kann?

 

(2) Beispiele für ganzheitspsychologische Problemlösungen

 

1. Deeskalation positiver Rückkopplungen

 

Im Beispiel des Schülers A (s.u., S. 85) wird die Entstehung einer problematischen Unterrichtssituation dargestellt.

Aufgabe: Schlagen Sie aus ganzheitspsychologischer Sicht konkrete Maßnahmen vor, die eine Deeskalation dieses sozialen Prozesses herbeiführen können. Simulieren Sie diese Situation.

 

2. Empathieübungen: Elemente der Gesprächsführung nach Rogers

 

a) Kontrollierter Dialog (Übung):

 

Aufteilen der Teilnehmer in Dreier-Gruppen (Rollen A, B, C); je zwei dieser drei Teilnehmer (A und B) wählen sich ein Thema und versuchen, darüber ein Gespräch zu führen, und zwar mit folgenden Spielregeln:

 

- A beginnt mit einem Satz, einer These; B muß vorerst den Satz von A genau sinngemäß wiederholen; daß der Sinn des Satzes durch B nicht entstellt worden ist, muß von A daraufhin mit "stimmt" oder "richtig" bestätigt werden, erst dann darf B auf den Satz von A antworten.

 

- Wird ein Satz z. B. von B (oder A) nicht ganz sinngemäß wiederholt, wird er nicht von A (oder B) mit "stimmt" bzw. "richtig" bestätigt, sondern verneint mit "falsch" oder "nein" und muß von B (oder A) nochmals wiederholt werden; ist er dann noch immer falsch, muß ihn A (oder B) selbst nochmals sagen, B wiederholt ihn usw.

 

- C fungiert als Beobachter und schaltet sich verbal ein, wenn die Spielregeln nicht eingehalten werden. Die Zeit wird auch von ihm gestoppt.

 

Dieses Gespräch dauert jeweils 15' (insgesamt dreimal), nach 15' werden die Rollen gewechselt, so daß jeder Teilnehmer einmal auch Beobachter war.

 

- Nach 45´ Treffen zur gemeinsamen Diskussion.

(Antons, 1976; S. 88)

 

b) Sensibilisierung für fördernde und hemmende Antworten (Übung):

 

Ein Beispiel:

 

Ein Gruppenmitglied (Mitschüler) sagt zu den anderen in der Gruppe (Klasse):

 

"Ich habe in dieser Gruppe (Klasse) oft das Gefühl, als ob eine Wand zwischen mir und den anderen Gruppenmitgliedern besteht."

Fördernde Antworten:

 

- "Das ist mir auch schon aufgefallen, daß wir nie so richtig zueinander finden." (Mitteilung der eigenen Gefühle und Gedanken)

 

- "Geht dir das auch so bei mir? " (Informationssuche)

 

- "Wie du das sagst, klingt das so, als ob du darüber sehr traurig bist. Stimmt das? " (Wahrnehmungsüberprüfung)

 

- "Du hast oft das Gefühl von Distanz zu den anderen Gruppenmitgliedern? " (Verbalisierung der gefühlsmäßigen Erlebnisinhalte)

Hindernde Antworten:

 

- "Du bist wahrscheinlich introvertiert und gehemmt, und nur deswegen hast du diese Gefühle." (Interpretation)

 

- "Sei doch mal etwas zugänglicher." (Ratschlag, Aufforderung)

 

- "Ich habe doch immer versucht, mit dir zu reden, und die anderen auch. So etwas kannst du nun wirklich nicht behaupten." (emotionale Verpflichtung)

 

- "Du widersprichst dir. Letztes Mal hast du gesagt, daß du zu X ein ganz gutes Verhältnis hast." (Kampfmittel)

 

- "Du brauchst diese Gefühle von Distanz wirklich nicht zu haben, weil wir hier doch alle so freundlich zueinander sind." (Verneinung des Gefühls)

 

(Schwäbisch & Siems, 1974; Einfügungen: G.S.)

 

Aufgaben:

 

1. Diskutieren Sie, warum und in Bezug auf was die obigen Antworten als "hemmend" oder "fördernd" angesehen werden.

 

2. Formulieren Sie verschiedene fördernde und hemmende Antworten zu folgenden Situationen und diskutieren Sie jeweils deren Wirkung:

 

- Ein Mitschüler sagt zu Ihnen: "Ich glaube, ich habe die Klausur ´versiebt´."

 

- Ein Kind sagt zu seinem Vater: "Ich will nicht ins tiefe Wasser, das ist so kalt."

 

- Ein Freund sagt zu Ihnen: "Ach, lebst Du auch noch?"

 

- Ein Mädchen zu seiner Freundin: "Ich kann Dir sagen, Männer sind blöd!"

 

(3) Beispiele für behavioristische Problemlösungen

1. Alltagsphobien:

 

Betrachtet werden alltägliche Phobien wie

 

- "Wasserangst" (vgl. das Fallbeispiel des Herrn F., S. 82),

 

- "Spinnenangst" (vgl. die obige Didaktische Erlebnisepisode, S. 27),

 

- kindliche Trennungsängste (vgl. das Fallbeispiel "Sascha", S. 77).

 

Aufgabe: Entwerfen Sie aus behavioristischer Perspektive einen konkreten Verhaltensplan, mit dem die Betroffenen die Löschung der dargestellten Ängste herbeiführen können. Beachten Sie die Realisierbarkeit dieser Maßnahmen.

 

2. Selbstsicherheit und die Bewältigung sozialer Ängste:

 

Aufgabe:

 

a) Sammeln Sie Situationen, in denen viele Schüler schüchtern sind und nicht wagen, berechtigte Interessen zu artikulieren und durchzusetzen.

 

b) Entwerfen Sie Übungen, in denen die Betroffenen im Rollenspiel die Bewältigung dieser Ängste üben können. Führen Sie ein solches Rollenspiel durch!

 

3. Elemente der Werbepsychologie:

 

Aufgabe: Entwerfen Sie ein Plakat, das helfen kann, "Drogenkonsum" mit negativen Affekten zu assoziieren.

 

(4) Beispiele für psychobiologische Problemlösungen

 

Das "Auftreten" - biologische Dominanz- und Subdominanz-Signale:

 

Stellen Sie sich vor, Sie sind zu einem Vorstellungsgespräch geladen, weil Sie sich für eine Stelle beworben haben. Die Sekretärin im Vorzimmer des Personalchefs ruft Ihren Namen. Sie öffnet von außen die Tür zu seinem Zimmer. Sie treten ein. Der Personalchef kommt Ihnen zur Begrüßung entgegen ... .

 

Aufgabe:

 

Simulieren Sie diese Situation in einem Rollenspiel "Personalchef - Bewerber". Die Situation ist beendet, wenn beide Platz genommen haben.

 

Die anwesenden nicht-spielenden Schüler beobachten (evtl. mit verteilten Aufgaben) die biologischen Signale: Mimik (Augenbrauengruß, Blickverhalten) Gestik, Körperhaltung, Raumverhalten, Stimme (Lautstärke, Modulation).

 

Es werden verschiedene Varianten des Verhaltens von Bewerber und Personalchef gespielt und analysiert und auf Dominanz bzw. Subdominanz hin bewertet (interpretiert). Jeder Schüler hat mehrere Versuche, neues Verhalten zu versuchen.

 

(5) Beispiele für kognitivistische Problemlösungen

 

1. Mnemotechniken

 

- Eine lange Einkaufsliste soll erstellt und auswendig gelernt werden (Butter, Eier, Kaffee ...). Lerntechnik: die Elemente verbinden zu einer Handlung: (Frühstücken)

 

- Zu einer Liste von Details Oberbegriffe finden und die Liste so umstrukturieren.

 

- "Eselsbrücken": Jedes Detail wird mit einer visuellen Vorstellung verknüpft, mit der dieses assoziiert werden kann.

 

2. Selbstwertgefühl und Leistungsangst: Entdecken von automatisierten Fehl-Attributionen

 

Aufgabe 1 (Einzelarbeit): Bitte vervollständigen Sie die folgenden Sätze:

 

- Wenn ich eine schlechte Note bekomme, dann liegt das meistens daran, daß .......

 

- Wenn ich eine gute Note bekomme, dann meistens weil .....

 

Aufgabe 2 (Gruppenarbeit): Welche Antworten sind auf die obigen beiden Fragen denkbar, welche kommen Ihrer Erfahrung nach vor?

 

Sammlung aller Ideen; mögliche Lösungen:

 

"schlechte Note":

 

 a) Der Lehrer kann mich nicht leiden und ist nicht objektiv.

b) Die Aufgabe war zu schwer.

c) Ich war nicht richtig vorbereitet.

d) Ich hatte einen schlechten Tag.

e) Ich hatte einfach Pech.

f) Ich bin unbegabt.

g) Das Fach liegt mir nicht.

 

"gute Note":

 

 h) Ich beherrsche dieses Fach.

i) Ich bin intelligent.

j) Ich hatte eben Glück.

k) Ich hatte nur Erfolg, weil der Lehrer es gut mit mir meint.

l) Die Aufgabe war sehr leicht.

 

Auswertung:

 

- Klassifikation der Attributionen (internal / external; selbstwerterhöhend / selbstwertbedrohlich)

- Suche nach Situationen des Alltags, in denen in ähnlicher Weise attribuiert wird

- Suche nach alternativen, selbstwerterhöhenden Attributionen

 

3. Selbststeuerungskompetenzen bei problemerzeugenden Kognitionen: Die "A-B-C-D-E"-Technik

 

Übung (nach dem Vorbild der "Rational-emotiven Therapie" von Ellis): Beginnen Sie damit, sich an konkrete schulische Situationen zu erinnern, in denen Sie hilflos waren und sich gerne anders verhalten hätten, es aber nicht konnten (Prüfungen, Kritik, Gespräche, Gruppensituationen, Konflikte mit Lehrern usw.). Gehen Sie nun nach dem folgenden Schema vor:

 

A(uslöser): Beschreiben Sie die Bestandteile dieser Situation ausführlich

(z.B.: "Ich werde vom Lehrer im Unterricht aufgerufen und soll die Hausaufgaben vortragen.")

 

B(eliefs), persönliche "Glaubenssätze", "irrationale Überzeugungen": Welche für Sie selbstverständlichen, automatisierten irrationalen Annahmen machen Sie über diese Situation?

 

(hier z.B.: "Der Lehrer will mich immer ´reinlegen´; er will mir zeigen, daß ich es nicht kann. - In solchen Situationen ist es besser, man hält sich still. - Wenn ich es nämlich nicht kann, dann verspiele ich meine Beliebtheit in der Klasse.")

 

Beispiele für irrationale Überzeugungen:

 

- Es ist eine irrationale Annahme, zu meinen, man müsse in jeder Hinsicht perfekt, intelligent und kompetent sein.

 

- Es ist eine irrationale Annahme, zu meinen, anderen gegenüber immer so tun zu müssen, als wüßte man alles.

 

- Es ist eine irrationale Annahme, zu meinen, daß man alle Umstände und Situationen nur nach den eigenen Vorstellungen gestalten könnte.

 

- Es ist eine irrationale Annahme, zu meinen, daß man dann anerkannt und gemocht wird, wenn man es anderen Leuten immer recht macht.

 

- Es ist eine irrationale Annahme, zu meinen, daß man bloß nichts riskieren sollte, um keine Probleme zu bekommen.

 

- Es ist eine irrationale Annahme, zu meinen, daß sich die Dinge von selbst erledigen, wenn man sie »aussitzt«.

(Anton & Weiland, 1993; S. 99/100)

 

Beachten Sie bei der Analyse Ihrer "beliefs" folgende mögliche systematische Denkfehler:

 

- willkürliche Schlußfolgerungen; damit ist gemeint, daß sogar bei gegenteiligem Beweis aus einem einzigen Mißerfolg willkürlich gefolgert wird: »Ich bin ein Versager.«

 

- Übergeneralisierung: damit ist gemeint, daß aus dem Verlauf eines Ereignisses darauf geschlossen wird, daß es sich immer so abspielen muß. Zum Beispiel: Ein alter Freund hat sich länger nicht gemeldet, und Sie beginnen, die völlige soziale Isolation zu befürchten.

 

- Alles-oder-Nichts-Denken ist nichts anderes als Schwarzmalerei. Alle Ereignisse und Mitmenschen werden dabei in absolute Kategorien von gut und schlecht eingeordnet.

 

(a.a.O.; S. 100/101)

 

C(onsequences): Welche Gefühle resultieren aus diesen Annahmen? Beschreiben Sie diese möglichst detailliert!

(hier z.B.: "Ich fühle mich hilflos, unter Druck gesetzt, habe Angst zu versagen.")

 

D(isputation): Überprüfen Sie die Stimmigkeit Ihrer Schlußfolgerungen. Diskutieren Sie diese in der Gruppe. Probieren Sie mehrere alternative Annahmen und Überzeugungen. Beraten Sie sich darüber in der Gruppe.

 

(hier z.B.: "Hat der Lehrer es wirklich auf mich abgesehen? Vielleicht will er ja nur den Stoff der vorigen Stunde wiederholen, damit er heute darauf aufbauen kann. - Man verliert doch wegen einer falschen Antwort nicht an Ansehen in der Klasse.")

 

E(rgebnis): Gefühle, die entstehen, wenn die rationaleren Überzeugungen und Annahmen (in der Phantasie) probiert werden.

(hier z.B.: Erleichterung, weniger ´Stress´, geringere Besorgnis)

3.4 Zusammenfassung

Im Anschluß an Wittgensteins Sprachphilosophie (vgl. Wittgenstein, 1984) wurde angenommen, daß begriffliche Konstrukte ihre (semantische) inhaltliche Substanz aus der Pragmatik der Sprachspiele beziehen, also aus ihren konkreten beispielhaften Anwendungen. Daraus ergaben sich für die im Unterricht zu vermittelnden Paradigmen zwei wesentliche Bereiche, aus denen in ausreichender Menge unterschiedliche Beispiele zur Anwendung entnommen werden sollten: Wissenschaft und Alltag.

 

Nun sind es aber vor allem die Alltagsbeispiele, sowohl ihre Unterschiedlichkeiten als auch die "Familienähnlichkeiten", die einen Eindruck geben von der Reichweite und der Alltagsrelevanz eines paradigmatisch-theoretischen Konstrukts. Damit betraf der erste Teil dieses methodischen Schwerpunktes das Problem der Auswahl von Alltagsbeispielen, also die "paradigmatischen Alltagsanwendungen".

 

Zwei Auswahlkriterien für Alltagsbeispiele wurden vorgestellt:

 

- "Relevanz": die Häufigkeit, mit der ein Beispiel im vergangenen, aktuellen oder zukünftigen Alltag der Schüler vorkommt und seine subjektive Wichtigkeit.

 

- "Neuigkeitswert": das Ausmaß, in dem ein Beispiel mit bereits vorhandenen Erklärungsschemata der Schüler (wissenschaftlichen oder alltagspsychologischen) kollidiert oder von diesen erst gar nicht erfaßt wird.

 

Der Umgang mit Alltagsbeispielen sollte im Unterricht auch deshalb breiten Raum einnehmen, weil diese natürlich wichtige Übungssituationen darstellen für den Transfer wissenschaftlichen Wissens in den Alltag. Alltagsbeispiele erlauben die Konstruktion sehr unterschiedlicher Kontexte und Perspektiven (im Sinne der konstruktivistischen Lerntheorie).

 

Im zweiten Teil des methodischen Schwerpunktes "Alltagsorientierte Anwendungen" wurde dann aus dem Hempel-Oppenheim-Schema eine Heuristik "Paradigmenorientierter Alltagsanwendung" entwickelt.

 

Trifft man auf eine erklärungsbedürftige problematische Alltagssituation, so kann diese in folgender Weise strukturiert werden:

Man trifft zunächst eine heuristische Grundsatzentscheidung für ein wissenschaftliches psychologisches Paradigma, mit der man diese Situation vorstrukturieren möchte. Die Basiselemente dieses Paradigmas liefern allgemeine, relativ einfache "paradigmatische Antecedensbedingungen" und legen die "paradigmatische Umgebung" fest, innerhalb der die Erklärung gefunden werden soll.

 

Die paradigmatischen Antecedensbedingungen werden dann zu theoretischen Antecedensbedingungen präzisiert, im Hinblick auf eine konkrete, zum Paradigma gehörige Theorie. Die Auswahl einer solchen Theorie ist nun deutlich einfacher, weil sich der entsprechende Suchraum durch die paradigmatische Vorstrukturierung verkleinert hat. Dann erfolgt die Erklärung mit dieser Theorie.

 

Dieses Verfahren läßt sich auch auf erfolglose Problemlösehandlungen übertragen. Hier werden die impliziten paradigmatischen Hintergrundannahmen untersucht, die dem Lösungsversuch zugrunde liegen. Ein systematischer "Paradigmenwechsel" ermöglicht die Auswahl grundlegend neuer Lösungsstrategien und -Handlungen.

 

Anschließend wurden unterrichtspraktische Übungen vorgestellt, die die Heuristik "Paradigmenorientierter Alltagsanwendung" systematisch vermitteln und dabei konkrete Handlungskompetenzen einüben sollten.