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5. Paradigmatisches Wahrnehmen und Denken bei Schülern - Berichte aus der Praxis

Alle didaktischen Modelle sind nur so gut wie ihre praktische Bewährung. Ebenso selbstverständlich ist aber auch, daß für das vorliegende Modell der Paradigmenorientierten Didaktik noch kaum empirisch gewonnene Daten vorliegen können, die seine Wirksamkeit bestätigen. Dennoch lassen sich aus einigen, im Verlauf der Unterrichtspraxis gemachten qualitativen Beobachtungen die ersten Schlüsse ziehen.

 

Wie gehen Schüler, die drei Jahre lang einen Alltags- und Paradigmenorientierten Psychologieunterricht besucht haben, mit einfachen Alltagsbeispielen und mit kleineren klinischen Fallbeispielen um? Werden sie das Paradigmenkonzept auch ohne Aufforderung einsetzen? Und werden sie sich bei der Erklärung an die Heuristik "Paradigmenorientierte Alltagsanwendung" halten? Wie hoch ist ihre Fähigkeit zur metaparadigmatischen Reflexion?

 

Um hierüber Aufschluß zu erhalten, sollen nun exemplarisch einige Schüleranwendungen vorgestellt und kommentiert werden.

5.1 "Spontane" Schülererklärungen für eine Alltagssituation

(1) Der Fall des Schülers A

 

Schülerinnen und Schülern von Psychologie-Grundkursen der Jahrgangsstufe 13 (Abiturjahrgang 1994) wurde kurz vor dem Abitur ein Beispiel ("Schüler A", s.u.) vorgelegt, in dem eine typische konflikthafte Szene aus dem Schulalltag darstellt ist. Das Beispiel ist in den Details so konstruiert, daß sich darin Hinweise für Erklärungen aus allen paradigmatischen Perspektiven finden lassen. Die Schüler sollten kurz die "wesentlichen möglichen Ursachen" schriftlich skizzieren, die für die Entstehung dieser Konfliktsituation verantwortlich sein könnten. Die Arbeitszeit war auf 30 Minuten begrenzt.

 

Im Unterricht bis zur Klasse 13 waren drei Paradigmen vertieft und wiederholt behandelt worden: Behaviorismus, Tiefenpsychologie und Ganzheitspsychologie. Die durchgeführte Sequenz entsprach etwa der oben vorgestellten ersten Beispielsequenz für das Land Brandenburg (vgl. S. 8), allerdings für den Grundkurs gekürzt auf die genannten drei paradigmatischen Hauptlinien. Kognitivistische und psychobiologische Erklärungsansätze waren vorgekommen, aber nicht durch mehrfaches spiraliges Aufgreifen systematisch vertieft worden.

Der Fall des Schülers A

Der Lehrer, der die Klasse 8 neu übernommen hat, hält dort die erste Unterrichtsstunde. Der Schüler A starrt gedankenverloren auf das Heft des Nachbarn. Der Lehrer wurde bereits von einem Kollegen auf das problematische Verhalten des Schülers A und dessen schwierige häusliche Bedingungen hingewiesen: Die Eltern hatten nie viel Zeit für A und leben nun in Scheidung. Er ermahnt den Schüler freundlich aufzupassen, aber dieser antwortet sehr unwirsch: "Ja, is' schon gut, Mann!" Einige Schüler kichern und sehen den Lehrer erwartungsvoll an. Dieser ärgert sich über A, sagt aber nichts. Etwas später, als A seinem Nachbarn etwas ins Heft kritzelt, sagt der Lehrer energisch: "Laß das! Du solltest wirklich aufpassen!" Schüler A schneidet daraufhin seinem grinsenden Nachbarn eine Grimasse und sagt zu diesem: "Haste gehört, Du Eiermann?". Die Klasse lacht. Der Lehrer fährt A an: "Soll ich Dich tatsächlich gleich in der ersten Stunde ins Klassenbuch eintragen?" Darauf reißt A seinem Nachbarn ein Blatt aus dem Heft, knüllt es zusammen und bewirft damit eine andere Schülerin.

 

Aufgabe: Versuchen Sie, die Vorgänge in der obigen Alltagsszene zu erklärten. Skizzieren Sie kurz schriftlich die aus Ihrer Sicht wesentlichen möglichen Ursachen für das Zustandekommen des Problems.

 

Im folgenden werden nun die Lösungen von fünf Schülerinnen bzw. Schülern wörtlich wiedergegeben. Die Absätze und Gliederungsmarkierungen entsprechen den Originalen; die gröbsten Formfehler wurden beseitigt; Hervorhebungen sind hinzugefügt.

 

Schüler/in 1:

 

"Die Ursachen für das Problem, insofern die Verhaltensweisen der beteiligten Personen überhaupt als Problem aufgefaßt werden können, sind paradigmenabhängig.

 

Je nachdem für welches Modell der menschlichen Psyche sich der Betrachter entscheidet, befaßt er sich mit anderen Grundannahmen über die menschlichen Psyche, anderen in ihr wirksamen Mechanismen. (Ursache und Problem werden als kausale Kette anders gedeutet; bzw. die Ursache ist uninteressant.)

 

Die Betrachtungsweisen der einzelnen Paradigmen sieht wie folgt aus:

 

Kognitivismus: Da innerhalb dieses Paradigmas von der Grundannahme ausgegangen wird, daß das menschliche Verhalten auf Wahrnehmung und kognitiven Fähigkeiten beruht, ist die Ursache des Problems (Lehrer und Schüler A haben "Zoff") in der Wahrnehmung zu suchen (Wahrnehmungsschwellen, setting etc.)

 

Behaviorismus: Das Verhalten sowohl von A als auch vom Lehrer steht unter Reizkontrolle der Umwelt: A´s "Frechheiten" werden von den Mitschülern verstärkt, der Lehrer zeigt Vermeidungsverhalten (neg. Sanktionen durch Kollegen, Direktor, Eltern etc. wenn er die Klasse nicht "in den Griff bekommt") ..."

 

Schüler/in 2:

"Mit Hilfe der verschiedenen Paradigmen der Psychologie kann man mehrere unterschiedliche Ursachen für das vorliegende Problem aufzeigen:

 

Aus ganzheitspsychologischer Sicht handelt es sich hierbei um einen Aufschaukelungsprozeß mit positiver Rückkopplung. Der Schüler sieht den Lehrer als Verursacher seines destruktiven Verhaltens an und der Lehrer reagiert aus seiner Sicht auf das Verhalten des Jungen (Interpunktion). Je mehr der Lehrer den Schüler ermahnt und ihm Strafe androht, desto mehr destruktives Verhalten zeigt der Schüler A. Außerdem würde das Handeln des Lehrers als self-fulfilling prophecy angesehen werden, die das Lehrerkollegium verursacht hat, indem es den Lehrer vor dem Schüler A gewarnt hat, ohne daß dieser ihn vorher kannte. Ursache könnte aus systemtheoretischer Sicht auch Kommunikationsstörung zwischen dem Lehrer und dem Schüler A sein. Nach den Axiomen von Watzlawick kann man nicht nicht kommunizieren, d.h. also, wenn der Schüler auch nichts sagt, so teilt er dem Lehrer dennoch etwas mit. Jede Kommunikation besteht aus zwei Ebenen, der inhaltlichen Ebene und der Beziehungsebene. Wenn der Lehrer den Schüler beschimpft, teilt er ihm auf der Beziehungsebene mit, daß er "mächtiger" ist als Schüler A.

 

Systemtheoretisch gesehen spielt die Familie des Schülers A als Verursacher des Problems eine entscheidende Rolle. Denn hier wird so argumentiert, daß nicht eine einzelne Person, also hier der Schüler A, sondern das gesamte soziale Umfeld Symptom-Verursacher ist, es gibt aber nur eine Person, die Symptom-Träger ist. Also nicht der Schüler A ist "schuld" an dem Problemen, die er in der Schule hat, sondern seine Familie und die "schwierigen häuslichen Bedingungen".

 

Psychoanalyse: Psychoanalytiker sehen die (unbewußten) Ursachen jeglichen Verhaltens und in der frühen Kindheit der betreffenden Personen liegen; genauer gesagt in Fixierungen an eine Phase der psychosexuellen Entwicklung. Sowohl der Lehrer des Schülers als auch der Schüler scheinen an die anale Phase fixiert zu sein, in der ein Kind lernt, sich durchzusetzen und Macht auszuüben. Wahrscheinlich fand ein Konflikt in der analen Phase statt, was einen analen Zwangscharakter in der späteren Entwicklung zur Folge hatte."

 
Schüler/in 3:

Ganzheitspsychologie: Eine wesentliche Ursache für das Problem ist die Bemerkung eines Kollegen über das angeblich problematische Verhalten des Schülers A. Der Lehrer weiß nun, über das angeblich problematische Verhalten Bescheid und interpretiert jedes weitere Verhalten von A als negativ und problematisch (Halo-Effekt). Es ist also eine self-fulfilling prophecy, da sich die Prophezeiung des Kollegen selbst erfüllt. (...) Eine andere Ursache ist die Kommunikation zwischen Schüler A und seinem Lehrer.

=> je mehr

A macht Unsinn           &nb sp;            Lehrer ermahnt

je mehr <=

Je mehr A Unsinn macht, desto mehr wird er vom Lehrer ermahnt. Je mehr der Lehrer ihn ermahnt, desto mehr Unsinn macht A. Es ist also eine Schleife von "mehr desselben". (...)

 

Behaviorismus: Aus der Sicht der Behavioristen liegt die Ursache im Verhalten des Schülers A. Schüler A hat durch Konditionierungsprozesse gelernt, daß er mit seinem Verhalten Aufmerksamkeit erregt, das sein Verhalten durch positive Verstärker (z.B. Schüler) verstärkt wurde.

 

Psychoanalyse: Schüler A hatte ein Problem in der frühen Kindheit. Diesem Problem liegt eine Fixierung an eine Phase zugrunde. Hier liegt eine Fixierung an die anale Phase vor.

 

Schüler/in 4:

Die wesentlichen Ursachen für das Problem sind aus Sicht der Ganzheitspsychologie folgende: Der Lehrer wurde bereits von einem Kollegen über das problematische Verhalten des Schülers A informiert. Es hat also eine self-fulfilling prophecy stattgefunden, die Aussage des Kollegen hat sich selbst erfüllt, daß der Lehrer des Schülers A durch die Behauptung des Kollegen mehr auf auffällige Verhaltensweisen des Schülers A achtet. Eine weitere Ursache für das Problem ist die Kommunikation zwischen Schüler und Lehrer. Nimmt man eine Kommunikationsanalyse vor, so stellt sich heraus, daß die Beziehungsebene zwischen L und S noch nicht klar definiert ist, d.h. beide Kommunikationspartner sind mit der Beziehungsebene nicht einverstanden. Auch die Interpunktion der W-partner ist uneins. Es entsteht dadurch ein sog. Kreisprozeß. Je mehr der Lehrer ermahnt, desto mehr stört der Schüler (Aufschaukelungsprozeß).

 

Behaviorismus: Die Ursache des Problems ist das Verhalten des Schülers, das er durch Konditionierungsprozesse gelernt hat. Durch das Verhalten der Klassenkameraden wurde dieser Schüler verstärkt.

 

Psychoanalyse: Psychoanalytiker suchen die Ursache der Störung im Unbewußten. Durch die Fixierung an eine Phase während der psychosexuellen Entwicklung entsteht nach Ansicht der PA eine Störung. Der Schüler A hat seine Störung durch eine Fixierung an die anale Phase.

 
Schüler/in 5:

Wahrnehmungsschwelle des Lehrers ist durch die anderen so beeinflußt worden, daß er nur noch die negativen Verhaltensweisen wahrnimmt.

 

Rückkopplung (positive), je mehr Druck der Lehrer auf A ausübt, desto schwieriger wird es, mit ihm klarzukommen das Verhalten der Mitschüler zwingt den Lehrer dazu, sein Gesicht zu wahren, und A seinen Willen aufzudrängen. Dieser wird durch die Vorgehensweise des Lehrers nur noch sturer oder durch das Verhalten seiner Mitschüler aufgestachelt, so weiterzumachen.

 

Schüler A möchte auf sich aufmerksam machen (im Mittelpunkt stehen) Abwehrmechanismus.

 

(2) Analyse

 

Obwohl die Aufgabenstellung sie dazu verleiten könnte, das Alltagsbeispiel "aus ihrer Sicht" zu interpretieren, verfallen die Schüler nicht in ihre "Alltagspsychologie", und keiner beschränkt sich auf nur eine paradigmatische Perspektive. Alle Interpretationen bedienen sich der oben beschriebenen Heuristik "Paradigmenorientierter Alltagsanwendung" (vgl. Abschnitt 5.5.2), allerdings in mehr oder weniger expliziter und ausführlicher Weise:

 

"Entscheidung" und paradigmatische Zuordnungen: Zunächst strukturieren alle Schüler ihre Ausführungen erkennbar nach paradigmatischen Perspektiven. Fast alle tun dies explizit, indem sie das jeweilige Paradigma benennen. Bei einigen wenigen (meist leistungsschwächeren Schülern, vgl. Beispiel 5) ist die Zuordnung lediglich an der Abschnittsgliederung und der zugehörigen theoretischen Terminologie erkennbar. Innerhalb einer paradigmatischen Perspektive wird aber stets konsistent argumentiert, und zwar ausschließlich mit Theorien, die auch diesem Paradigma angehören.

 

Metaparadigmatische Aspekte werden, wie zu erwarten, unterschiedlich intensiv angesprochen. Hier schwanken die Ausführungen von expliziten wissenschaftstheoretischen Vor- oder Nachbemerkungen (wie bei Beispiel 1 und 2) über das einfache Benennen der paradigmatischen Perspektive (Beispiel 3 und 4) bis hin zur bloßen Andeutung einer paradigmatischen Zuordnung durch die Gliederung (Beispiel 5).

 

Paradigmatische und theoretische Antecedensbedingungen: Auch die explizite Benennung der paradigmatischen Antecedensbedingungen (Schritt 2 der Heuristik), also der paradigmatischen Basiselemente und Kernannahmen, geschieht unterschiedlich intensiv. Nur wenige Schüler benennen diese konsequent vorweg (wie hier in Beispiel 1: "Da innerhalb dieses Paradigmas von der Grundannahme ausgegangen wird, daß ... "). Die meisten greifen zu einer anderen (möglicherweise auch ökonomischeren) Strategie, für die das Vorgehen in den Beispielen 2, 3 und 4 typisch ist:

 

Eine erste, ausführliche theoretische Interpretation, mit der die Schüler häufig spontan anfangen, wird zunächst paradigmatisch etikettiert. Sie fahren dann aber fort, ohne die paradigmatischen Basiseinheiten (paradigmatischen Antecedensbedingungen) explizit zu erwähnen, und beginnen mit der interpretativen Rekonstruktion des Fallbeispiels und der Anwendung der theoretischen Konstrukte (Rekonstruktion der theoretischen Antecedensbedingungen; Schritt 3 und 4 der Heuristik). Die theoretische Deutung verläuft nun zügig, z.T. unter zusätzlicher Verwendung anderer Theorien desselben Paradigmas.

 

Nach Beendigung dieser ersten (gelungenen) Erklärung, versuchen die Schüler eine zweite, (oder weitere) grundlegend andere Perspektive durch "Paradigmenwechsel". Sie etikettieren wieder das neue Paradigma und beginnen dann mit einer Mischung aus paradigmatischen und theoretischen Antecedensbedingungen, z.B.:

 

  • "Psychoanalytiker sehen die (unbewußten) Ursachen jeglichen Verhaltens in ... Fixierungen an eine Phase der psychosexuellen Entwicklung" (Beispiel 2)
  • "Aus der Sicht der Behavioristen liegt die Ursache im Verhalten des Schülers A." (Beispiel 3)
  • "Psychoanalytiker suchen die Ursache der Störung im Unbewußten" (Beispiel 4).

 

Hier werden die paradigmatischen Antecedensbedingungen (hier: "unbewußte Ursachen", "Verhalten", "Unbewußtes") genannt, und dann (oft sehr schnell und noch im selben Satz) durch spezielle theoretische Kategorien (theoretische Antecedensbedingungen) konkretisiert (hier: "Fixierung", "Verstärkung"). Die Fortsetzung der Erklärungsskizze geschieht dann stets theoriespezifisch.

 

(3) Schlußfolgerungen

 

1. Vermutlich erfüllen bei diesen Schülerinnen und Schülern Paradigmen tatsächlich schon die Funktion elementarer Wahrnehmungs- und Suchschemata für die Erklärung von Alltagssituationen:

 

Sie treffen vor jeder interpretativen Aussage eine Entscheidung für eine paradigmatische Perspektive (Schritt 1 der Heuristik), die sie dann bis zum Ende der jeweiligen Erklärungsskizze einhalten (Schritte 3 und 4).

 

2. Das "Auffinden paradigmatischer Antecedensbedingungen" (Schritt 2 der Heuristik), wird nicht verwendet, wenn es gleich auf Anhieb gelingt, auf ein wissenschaftliches Erklärungsmuster "zuzugreifen".

 

3. Ist die erste "spontane" Erklärung aber beendet, so wechseln alle Schüler die paradigmatische Perspektive ("Paradigmenwechsel").

 

4. Es fällt Ihnen dann (bei dem Paradigma "zweiter Wahl") möglicherweise schwerer, sich in dieser neuen (Erklärungs-)Welt zurechtzufinden. So wird nun eine erste Orientierung durch eine kurze "Erklärungsvorstruktur" hergestellt (Schritt 2 der Heuristik), vermittels paradigmatischer Antecedensbedingungen, die dann erst theoriespezifisch konkretisiert werden.

 

Eine Vorstrukturierung des Erklärungraumes durch paradigmatische Basiselemente geschieht offensichtlich erst, wenn sich spontan keine direkte theoretische Erklärung anbietet, so daß systematisch gesucht werden muß. Dies gelingt den meisten Schülern dann tatsächlich auch.

 

Insgesamt können also Schüler die wissenschaftlich-psychologischen Paradigmen verwenden

 

- zur Klassifizierung einer wissenschaftlichen Erklärung,

 

- zur Erzeugung einer prinzipiell neuen Perspektive und danach

 

- zur Orientierung im "Dickicht" der gelernten Theorien.

5.2 "Paradigmenvergleich" an Themen der Klinischen Psychologie

Die obigen Beispiele geben einige Hinweise darauf, wie Schülerinnen und Schüler spontan mit wissenschaftlichen Erklärungsmitteln an eine Alltagssituation herangehen (wobei noch zu untersuchen bleibt, ob dies in ähnlicher Weise auch außerhalb des schulischen "Verschriftlichungszusammenhangs" gelingt). Im folgenden soll nun, ebenfalls durch eine exemplarische qualitative Analyse, demonstriert werden, wie Schüler in elaborierter Form paradigmenorientiert arbeiten, und zwar

  • bei der Analyse eines alltagsnahen klinischen Fallbeispiels (nur solche scheinen mir für die klinische Psychologie geeignet),
  • beim Entwurf praktischer Handlungsmuster zur Problemlösung sowie
  • bei der metaparadigmatischen Reflexion.

 

Die wörtliche Wiedergabe der Lösung zeigt außerdem, bis zu welchem Grad Schüler die entsprechenden Sprachspiele zu beherrschen lernen, und wieweit sie diese zu reflektieren in der Lage sind.

 

(1) Eine alltagsnahes klinisches Fallbeispiel im "Paradigmenvergleich"

 

In einer regulären Klausur (erstes Quartal der Jahrgangsstufe 13, Abiturjahrgang 1993) wurde der Fall des "Herrn F." (vgl. S. 82) vorgegeben, mit folgender Aufgabenstellung:

 

  1.  Welche möglichen Erklärungen bieten behavioristische Lerntheorien (VT) und Psychoanalyse für Herrn Fs Problem an? Analysieren Sie das Fallbeispiel aus der Sicht der beiden theoretischen Ansätze.
  2.  Entwerfen Sie ein konkretes verhaltenstherapeutisches Trainingsprogramm, mit dem Herr F. vor der Kur noch seine Wasserangst selbst auflösen könnte. Begründen Sie die Vorschläge theoretisch.
  3.  In der Vergangenheit hat es starke Kontroversen zwischen den Vertretern der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie gegeben.
  •  Erläutern Sie zunächst die wesentlichen Unterschiede zwischen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse. Überlegen Sie, an welchen Elementen und Grundlagen der jeweiligen Verfahren und Theorien sich diese Kontroverse entzündet haben könnte.
  • An welchen Stellen sind Parallelen zwischen beiden Ansätzen zu erkennen?

 

Arbeitszeit: 4 Unterrichtsstunden.

 

Bis zur Klausur waren im Unterricht behandelt:

  • die theoretischen Grundlagen der Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse,
  • beide therapeutische Verfahren mit je einem Filmbeispiel.

Nicht vorgekommen waren bis dahin:

  • der selbständige Entwurf eines Desensibilisierungsprogramms,
  • der Vergleich zwischen verschiedenen Therapieformen,
  • mögliche Vergleichskriterien.

 

Klausur Schülerin Anja Kampmann, Erftgymnasium Bergheim:

  • Zu 1:

Herr F. leidet unter starker Wasserangst. Sobald er sich in tieferem Wasser befindet, hat er Angst, "den Boden unter den Füßen zu verlieren". Diese Furcht geht soweit, daß er selbst das Baden nach Möglichkeit vermeidet und statt dessen duscht. Des weiteren klagt Herr F. über Müdigkeit und Überforderung nahezu seit der Schulzeit. Eine daraufhin vom Arzt verordnete Kur macht eine Behandlung seiner Wasserangst notwendig.

 

Aus psychoanalytischer Sicht würde Herrn F.'s Problem folgendermaßen beschrieben werden: Die Ursache seiner Symptome hängt höchstwahrscheinlich mit dem zusammen, was Herr F. seinem Arzt über seine Erziehung und seinen Vater berichtet. Schon als Kind wurden er und seine Geschwister zu Fleiß und Disziplin angehalten, zur Unzufriedenheit des Vaters ausgeführte Aufgaben führten zu Strafen. Höchstleistungen waren selbstverständlich.

 

Dieser anhaltende Leistungsdruck von Kindesbeinen an, gepaart mit der Angst, die Eltern, bzw. den Vater zu enttäuschen, sind für den Psychoanalytiker wahrscheinliche Auslöser von Herrn F.'s Neurose. Eine Störung in der psychosexuellen Entwicklung erscheint plausibel, da der väterliche Druck nach Herrn F.'s Aussage schon im Kindergartenalter auf ihm lastete.

 

In der Zeit der phallischen Phase, in der sich das Hauptinteresse des Kindes im symbolischen Sinne auf "Penetration", also auf Erkundung und Vereinnahmung des Umfeldes, Eroberung von Freiheiten, konzentriert, wird Herr F. in ein Korsett aus Leistungsdruck und hohen Erwartungen des Vaters gezwängt. Die Möglichkeit des Absteckens der eigenen Grenzen bleibt aus, da das Erfüllen der Aufgaben oberste Priorität hat und die freie Entfaltung des Kindes somit unterbunden wird. Dieser Trieb bleibt also unbefriedigt, die Triebenergie jedoch erhalten. Herrn F.'s Angst vor tiefem Wasser könnte nun symbolischer Ausdruck für seine Kindheitssituation sein. Der Druck des Vaters erzeugte die ständige Angst, zu versagen, "den Boden unter den Füßen zu verlieren". Von dieser Angst noch heute beherrscht, ist ihm das Baden in tiefem Wasser, wenn es ihm wirklich "bis zum Halse steht", unerträglich. Da es bei einer Neurose jedoch stets zu einer Verdrängung des Konflikts kommt, sucht Herr F. nach anderen Gründen für seine Angst. Er erklärt sie mit Statistiken von Ertrunkenen, wehrt also durch Rationalisieren ab.

 

Auch seine ständige Übermüdung und das Gefühl der Überforderung hängen mit dem Druck des Vaters zusammen. Das jahrelange Gefühl der Unzulänglichkeit und des Versagens erzeugen die ständige Abgespanntheit.

 

Ein Behaviorist hingegen würde das Problem völlig anders beurteilen. Die Angst vorm Schwimmen ist das Resultat eines Konditionierungsvorganges, bei dem sie gelernt wurde. Die Beschreibungen Herrn F.'s geben einen Hinweis darauf. Er erklärt, es liege in der Familie, auch seine Eltern und Geschwister seien nie auf die Idee gekommen, ins tiefe Wasser zu gehen. Somit könnte seine Angst durch stellvertretendes Klassisches Konditionieren gelernt sein. Sicher hat er als Kind Situationen miterlebt, in denen seine Eltern, selbst Nichtschwimmer, es vermieden, ins tiefe Wasser zu gehen. So stellte das Wasser zunächst möglicherweise einen neutralen Reiz für das Kind dar, das Meiden des Wassers durch die Eltern und deren Angst davor löste aber auch beim Kind Angst aus, da die Angst der Eltern stets auch Kinder verunsichert. Dies ist also die unkonditionierte Reaktion (UCR). Nun findet eine Verknüpfung des neutralen Reizes "Wasser" mit der UCR statt. Somit ist nicht mehr die Angst und das Unbehagen der Eltern allein angstauslösend, sondern der Reiz, der die Hilflosigkeit der Eltern auslöst: tiefes Wasser. Auf diesen nun konditionierten Reiz folgt die nun konditionierte Reaktion: Angst.

 

Die Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer und Miller besagt, daß Reaktionen zunächst durch klassisches Konditionieren gelernt werden und später dann negativ verstärkt, indem man die angstauslösende Situation ständig meidet. Die Vermeidungsreaktion ist also Bestandteil des operanten Konditionierens. Ähnlich ist es bei Herrn F. auch geschehen, das ständige Meiden tiefen Wassers verstärkt nur seine Angst.

  • Zu 2:

Systematisches Desensibilisieren scheint mir hier am angebrachtesten. Auch ist das für Herrn F. selbst leicht durchführbar, da es sich bei seiner Phobie, wenn man überhaupt diesen Begriff gebrauchen sollte, um eine weniger stark ausgeprägte handelt, die sein Alltagsleben nicht so stark beeinflußt und deren Symptome nicht sehr bedrohlich sind. Zwar verspürt er bereits in der Badewanne Unwohlsein, seine Angst bleibt jedoch meiner Meinung nach im Rahmen des erträglichen.

 

Am einfachsten ist es, wenn Herr F. zunächst trainiert, wieder seine Badewanne zu benutzen. Die scheint in seiner Reizhierarchie an unterster Stelle zu stehen. Das nächstbedrohlichere wird für ihn sein, sich in einem Schwimmbecken aufzuhalten. Die Möglichkeit der Desensibilisierung ist auch hier gegeben, da er sich zunächst solange ganz langsam an das Nichtschwimmerbecken gewöhnen kann, bis es ihm keine Probleme mehr bereitet, sich darin aufzuhalten. Die Durchführung in einem öffentlichen Schwimmbad ist sicher auch unproblematisch, da die anderen Besucher außer Acht gelassen werden können. Es sei denn, das Baden wäre Herrn F. unangenehm wegen seiner Mitmenschen, dies geht jedoch nicht aus dem Text hervor. Da nun ein Schwimmbecken für gewöhnlich nicht plötzlich tiefer wird, sondern ganz allmählich an Tiefe zunimmt, ist es sicherlich möglich für Herrn F., nachdem er sich restlos an eine Wassertiefe gewöhnt hat und er sich hier völlig frei bewegen kann, sich weiter vorzuwagen und diesen Prozeß so fortzuführen, bis Wasser, das ihm bis zum Hals steht, keine Bedrohung mehr für ihn darstellt. An diesem Punkt wäre es sicher angebracht, die Hilfe eines Schwimmlehrers in Anspruch zu nehmen, damit er völlige Sicherheit im Wasser erlangt. Unter Berücksichtigung der kurzen zu Verfügung stehenden Zeit scheint mir dieses Programm am sinnvollsten.

  • Zu 3a:

Zwischen den beiden Theorien bestehen wesentliche Unterschiede. Während die Psychoanalyse bei Phobien mit der Neurosentheorie arbeitet, und somit die Entstehung der Störung immer in der Kindheit bzw. den verschiedenen Phasen der psychosexuellen Entwicklung ansiedelt, bleibt für Verhaltenstherapeuten auch die Möglichkeit der Entstehung von Phobien im Erwachsenenalter. Hierbei (VT) wird ein Lernprozeß als Ursache zugrundegelegt, wobei nicht immer das jetzige Objekt der Phobie auch der ursprünglich konditionierte Reiz sein muß. Durch Reizgeneralisierung kann sich dies völlig verändern. Bei der Psychoanalyse hingegen ist eine Phobie immer symbolische Verkörperung der eigentlichen Konfliktursache.

 

Die Fixierung auf die Kindheit erzeugt in der psychoanalytischen Therapie immer die Schwierigkeit, daß diese eine Aufarbeitung erfahren muß. Dazu gehört, daß zunächst in Gesprächen herausgefunden werden muß, in welcher Phase genau der Konflikt entstanden ist. Darauf folgt eine lange Phase der Abwehr des Patienten, eine Interpretation durch den Therapeuten, bis schließlich der Patient Einsicht zeigt, sich seinen Konflikt bewußt machen kann und schließlich das Symptom der Neurose, z.B. die Phobie, verschwindet. Dies ist ein sehr langer Prozeß, der sich über Jahre hinziehen kann, der für den P. häufig schmerzhaft ist und ihn viel Kraft kostet. Um einen Phobiker zu behandeln wird seine gesamte Kindheit durchforstet und das Ergebnis der Suche nach dem Konflikt bedeutet in den meisten Fällen, daß eine dem P. nahestehende Person, häufig die Eltern, der Ursache des Konflikts angeklagt wird. Das Bild, das der P. hatte, wird völlig umgestürzt und dies ist für viele schwierig zu bewältigen.

 

In der VT dagegen ist die Behandlungszeit weitaus kürzer. Die Behandlungsdauer ist wohl auch ein wesentlicher Kritikpunkt der Behavioristen, die der Ansicht sind, daß Psychoanalytiker für das Jahre brauchen, was sie in wenigen Monaten bewältigen.

 

Weiterhin bleibt zumindest bei der symptomorientierten Therapie das Augenmerk des Therapeuten stets auf das Symptom gerichtet, ohne sich wesentlich für Familienkonstellation und Kindheitsereignisse zu interessieren. In einigen Fällen ist der einfache Weg der systematischen Desensibilisierung sicher der richtige. Bei schweren Phobien genügt es jedoch nicht, lediglich das Symptom verschwinden zu lassen. Dies ist vermutlich der Grund für die Verfechter der Psychoanalyse, ihre Kritik anzubringen. Ausgehend von der Annahme, eine Phobie entstehe nie aus sich selbst, erscheint es wirklich falsch, sich lediglich auf das Symptom zu konzentrieren. Ist dies behoben, das wahre Problem jedoch unangetastet geblieben, so erscheint es nur logisch, daß es sich an anderer Stelle auf andere Weise bemerkbar macht. Die umweltorientierte Form der Verhaltenstherapie berücksichtigt dieses Problem. Hierbei wird nicht nur gelernt, mir dem Problem umzugehen, bis es schließlich verschwindet, sondern auch nach Hintergründen gefragt. Die Geschichte des P. bleibt nicht völlig außen vor, sondern wird mitbeachtet.

  • Zu 3b:

Trotz grundlegender Unterschiede gibt es Parallelen zwischen beiden Theorien. Sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Verhaltenstherapie ist das Objekt, auf das sich die Angst des Phobikers konzentriert nicht unbedingt der ursprüngliche Auslöser. Der kann ein ganz anderer sein. Was die Behavioristen mit Reizgeneralisierung beschreiben, ist für Psychoanalytiker die symbolische Verkörperung der eigentlichen Konfliktursache.

 

Die PA konzentriert sich allein auf die Entstehungsgeschichte des Symptoms, z.B. einer Phobie, und auch der umweltorientierte Ansatz der VT arbeitet damit. Bei beiden Therapieformen erfährt die problematische Vergangenheit des Patienten eine Aufarbeitung.

 

In der Durchführung bestehen ebenfalls Parallelen. Bei der umweltorientierten Form ist die Methode des Rollenspiels üblich. Der P. spricht mit dem Konfliktpartner, der durch den Therapeuten verkörpert wird. Ein wesentlicher Bestandteil der PA ist das Übertragungsphänomen, bei dem der P. seine Emotionen z. B. den Eltern gegenüber auf den Therapeuten verschiebt. In beiden Fällen werden die Konfliktsituationen vom P. erneut durchlebt.

 

(2) Analyse

 

Die Schülerin rekonstruiert zunächst aus den im Fallbeispiel gegebenen Indizien die theoretischen Antecedensbedingungen der tiefenpsychologischen Neurosetheorie und des behavioristischen Klassischen Konditionierens und wendet darauf die speziellen allgemeinen Gesetzesaussagen an. Die jeweiligen Sprachspiele werden getrennt voneinander "durchgespielt". Mögliche und typische Maßnahmen der Verhaltenstherapie, des auf "Löschung" ausgerichteten "systematischen Desensibilisierens", werden richtig skizziert, allerdings ohne die geforderten theoretischen Erklärungen (was bei der Benotung zu Abstrichen führt). Die angegebenen Maßnahmen sind aber den vorgegebenen Bedingungen ("seine Wasserangst selbst auflösen") adäquat und realitätsangemessen, was auch jeweils begründet wird.

 

Die vergleichende Reflexion (vgl. Aufgabe 3) bleibt stark praxisorientiert. Die Schülerin beurteilt die einzelnen Erklärungs- und Handlungsmodelle meist nach pragmatischen Kriterien: Angeführt werden die Komplexität und zeitliche Ausdehnung der Therapieprozesse sowie die Nachhaltigkeit der Wirkung beider Verfahren. Bei den "Parallelen" (Aufgabe 3b) entwickelt sie selbständig, ohne daß dies im Unterricht angesprochen worden wäre, dieselbe Argumentation, die tatsächlich historisch in der Auseinandersetzung zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie unter dem Motto gegenseitiger "Subsumptionsansprüche" stattgefunden hat (vgl. Keupp & Kraiker, 1984): Die "Übertragung" bei der psychoanalytischen Therapie ist "eigentlich" Desensibilisierung (behavioristische Sicht) - Der "Desensibilisierungsprozeß" generalisierter sozialer Angstauslöser gelingt, weil er "eigentlich" einen "Übertragungsvorgang" induziert (tiefenpsychologische Sicht).

 

Andere Aspekte des historischen Paradigmenstreits (z.B. in bezug auf die forschungsmethodischen Grundlagen oder die "Menschbildimplikationen") werden hier nicht erfaßt, wohl weil diese Gesichtspunkte beim Paradigmenvergleich im Unterricht bisher noch kaum vorgekommen sind. (Dies wurde in diesem Kurs erst am Ende der Gesamtsequenz erörtert!)

 

(3) Schlußfolgerungen

  1. Es scheint auch in der Unterrichtssequenz dieses Jahrgangs gelungen zu sein, die verschiedenen Sprachspiele so zu vermitteln, daß sie sowohl als analytische Instrumente als auch zur Konstruktion konkreter Handlungsschemata angewendet werden können. Die therapeutische Technik der "systematischen Desensibilisierung" wird als Folie verwendet, auf deren Hintergrund konkrete Handlungsschemata entwickelt werden, die auch zur erfolgreichen Lösung von Alltagsproblemen brauchbar sein können (hier: Desensibilisierung von "irrationalen" Alltagsängsten)
  2. Schülerinnen und Schüler können (möglicherweise durch den häufigen Einsatz problemorientierter und entdecken-lassender Lehrstrategien!) in die Lage versetzt werden, auch selbständig metaparadigmatische Argumentationsfiguren zu entwickeln, was voraussetzt, daß sie relativ geübt sind
  • in der Anwendung paradigmatischer Schemata,
  • in der vergleichenden Analyse ihrer Implikationen,
  • in der Entwicklung eigener (außerparadigmatischer) Vergleichskriterien.

3. Allerdings haben diese Fähigkeiten ihre Grenzen: Die Frage nach paradigmatischen Differenzen auf den Gebieten Forschungsmethoden, Theoriebildung oder Menschenbild muß wohl im Unterricht häufiger gestellt werden, damit diese Kriterien in das Repertoire von Schülern Eingang finden. Dies wurde in diesem (dreijährigen) Kurs erst recht spät geleistet.